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Rundbrief Familienstellen 12 2022
ISM Kassel. Grüner Waldweg 33. 34121 Kassel.
Tel.: 0561 9707641. E-Mail: ursula.ism@gmail.com

Langsamkeit wirkt Wunder
Vom Alten Fritz gibt es die Andekdote, er habe einmal zu seinem Kutscher gesagt: „Fahren
Sie langsam! Ich habe es eilig.“
Im letzten Herbst hatte Ursula einen Unfall, bei dem ihr ein Rückenwirkel brach. In der Folge
musste sie ein Korsett tragen, und ich musste ihr beim Anziehen in die Ärmel der Jacke hinein
helfen. Es fiel ihr schwer abzuwarten, aber je mehr sie mit der Hand nach der Ärmel-Öffnung
suchte, desto schwieriger wurde es, die Jacke so zu halten, dass sie hinein fand, und ich sagte:
„Mach langsam, dann geht es schneller.“
Beim Kum-Nye, einer tibetischen Form des Yoga, werden viele Bewegungen betont langsam
ausgeführt, so langsam wie möglich. Dabei entsteht eine ganz andere Wahrnehmung des eige-
nen Körpers und seiner Bewegungen. Dazu muss man gar nicht diese speziellen Bewegungs-
Abläufe üben. Jede beliebige Bewegung (zum Beispiel eine Tasse greifen und anheben) ver-
wandelt sich, wenn wir sie wie in Zeitlupe ausführen.
Bei  der Aufstellungsarbeit  hat  Bert  Hellinger  die  Stellvertreter  immer  wieder  aufgefordert,
sich langsam zu bewegen, ganz langsam. Es schärft die Wahrnehmung der inneren Impulse.
Bewegen  wir  uns  rasch,  bemerken  wir  manches  nicht,  und  wir  schalten  innerlich  um  von
bewusster Wahrnehmung  zu  unbewusstem  Denken,  zu  einem  Denken,  das  sich  nicht selbst
beobachten kann.
Es  funktioniert  natürlich  auch  umgekehrt: Wenn  wir  uns  bemühen,  all  unsere  Bewegungen
bewusst  wahrzunehmen  oder  auch  unser  Denken  zu  beobachten,  dehnt  sich  die  Zeit  in  die
Länge.  Das  ist  nicht  in  jeder  Lebenslage  praktisch  und  ratsam,  wenn  es  aber  darum  geht,
etwas bewusst wahrzunehmen, das gerade geschieht, dann ist es sogar unverzichtbar.
Kurz nach Ursulas Unfall hatten wir einen Aufstellungstag, den ich dann allein leitete und bei
dem ich öfter selbst in eine Stellvertretung ging. So auch im Fall einer Frau, die berichtete, ihr
Bruder führe seit Jahren „Krieg“ gegen sie. Nun stehe eine gerichtliche Auseinandersetzung
bevor,  bei  der  unweigerlich einer „die Existenz“ des anderen würde vernichten müsse, ent-
weder er die ihre oder sie die seine. Sie wolle das nicht, wisse aber auch nicht, was sie noch
tun könne, um das zu vermeiden.
Nachdem sie das erzählte hatte, fand sich kein Freiwilliger als Stellvertreter für den Bruder.
Also  übernahm  ich  diese  Rolle  selbst.  Für  den  Fall  der  Fälle  übertrug  ich  die  Leiter-Rolle
einer Teilnehmerin, die selbst mit Aufstellungen arbeitet – für den Fall, dass mich die Stell-
vertretung  des  Bruders  dermaßen  gefangen  nähme,  dass  ich  die  Aufstellung  nicht  mehr
gleichzeitig würde anleiten können.
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Die Aufstellung
Ich stehe in die Rolle des Bruders, gegenüber eine Stellvertreterin für die Frau. Die erklärt,
sie empfinde kaum etwas, während ich sofort sehr angespannt bin. Mir fällt auf, dass ich zwar
in  der  Beziehung zur „Schwester“ stehe, so sehr, dass ich gar nichts anderes wahrnehmen
kann, andererseits die Schwester als die bestimmte Person, die sie ist, gar nicht wahrnehme.
Jeder Stellvertreter nimmt einerseits die Impulse aus seiner Rolle wahr, gleichzeitig steht er
gewissermaßen selbst neben sich und beobachtet das, was gerade in ihm vorgeht. Wenn ich
als Anleiter selbst in eine Rolle gehe, trete ich manchmal für einen Moment aus der Stellver-
tretung hinaus und wechsle in die Rolle des Anleiters. So dachte ich hier: „Möglicherweise ist
die Schwester gar nicht die wirkliche Ursache meiner Anspannung.“ Um das zu prüfen, stelle
ich eine andere Person neben sie:
Genau, um die geht es! Das spüre ich deutlich.
Die Stellvertreterin der Schwester geht daraufhin aus der Rolle. Eine andere Person kommt in
die Aufstellung.
Sie  und  ich  stehen  frontal  einander  gegenüber,  die  Arme  seitlich  leicht  abgespreizt  –  wie
Duellanten im Cowboy-Film, deren Hände über den Revolvern schweben. Ich spreche das so
aus,  und  sage  dazu:  „Einer  von  uns  wird  den  anderen  töten“,  unausweichlich.  Ich  werde
ruhiger und warte ab, zucke aber zusammen, wenn ich bei dem anderen (für mich eindeutig
ein Mann) eine verdächtige Bewegung wahrnehme.
Ich frage mich, wie lange es wohl möglich ist, die Angelegenheit hinauszuzögern. Je länger
ich den anderen anschaue, desto weniger wünsche ich, ihn zu töten – abgesehen davon, dass
mein eigenes Leben auf dem Spiel steht. Ich sage zu ihm: „Wir sind gleich“, wobei mein Kopf
anerkennend nickt.
An den Seiten nehme ich Publikum wahr, das darauf wartet, dass hier endlich etwas passiert.
Mir aber dämmert allmählich, dass ich das eigentlich gar nicht will. Nur weiß ich nicht, wie
ich aus der Situation heraus kommen soll. Ich denke laut: „Eigentlich will ich das gar nicht.“
und: „Eigentlich mag ich ihn. Wenn ich ihn erschieße, wird es mir nachher leid tun.“
Die ganze Zeit schauen wir uns in die Augen. Ich gehe einen Schritt auf den anderen zu, doch
von ihm kommt keine Reaktion. Dabei schaue ich weiter konzentriert auf meinen „Gegner“.
Was, wenn er plötzlich zum Revolver griffe? Dann würde ich es auch tun. Oder? Ich stelle es
mir vor: Er greift seine Waffe und ich auch, wir schießen, einer wird sterben. Vermutlich ich,
weil ich zulange warte.
Während ich mir diese Szene vorstelle, merke ich, dass ich das nicht will. Und ich stelle mir
weiter vor: „Was, wenn ich mich nicht wehre? Nicht mitmache? Wenn ich ihn, falls es denn so
kommt, mich einfach erschießen lasse?
Zu meinem Erstaunen liegt in dieser Vorstellung für mich kein Schrecken, nicht mehr. Statt
dessen spüre ich, wie ich mich entspanne und weit werde. In mir spüre ich Wärme, ja Liebe,
und ich sage: „Wenn du mich töten musst, ich bin bereit.“ Er antwortet: „Nein, ich möchte
das nicht.“
Wir gehen beide einen Schritt aufeinander zu. Der andere sagt, an die Aufstellungs-Leiterin
gerichtet: „Das ist zu viel Liebe, die auf mich zukommt. Ich halte das nicht aus.“
Wir schauen uns weiter in die Augen. Ich gehe noch einen Schritt auf ihn zu, und nun nun
macht  auch  er  Schritte  auf  mich  zu.  Schließlich  umarmen  wir  uns,  die  Situation  entspannt
sich.

Wachstum oder Wiederholung
Diese Aufstellung hat mich auch später noch sehr beschäftigt. Mir kam in den Sinn: Wenn ich
in Wirklichkeit in solch einer Konfrontation gestanden hätte, in der es (so hatte es die Fall-
einbringerin ja beschrieben) um „die Existenz“ ginge, das heißt im Grunde ja: um töten oder
getötet werden – hätte ich in solch einer Situation denn in mich gehen und prüfen können:
„Was geschieht hier eigentlich? Stimmt das so für mich? Ist es das, was ich wirklich will?
Oder ist auch etwas anderes möglich?“ Das ist doch sehr, sehr unwahrscheinlich.
Wäre  ich  in  dieser  Situation  zu  Tode  gekommen  und  dann  „im  Himmel“  gefragt  worden:
„Was hast du daraus gelernt?“, was hätte ich sagen können außer: „Der andere war schneller.
Ich hätte mehr mit der Waffe üben müssen.“ Oder: „Ich hätte nicht so lange zögern dürfen“?
Und mit diesem Bewusstseins-Stand würde ich dann wieder in das nächste Leben eintreten.
Anders gesagt: Ich wäre aus dieser Erfahrung nicht klüger geworden, hätte keine Entwicklung
erfahren. Die Wahrscheinlichkeit, im nächsten Leben wieder in solch eine zugespitzte, „aus-
weglose“ Situation zu geraten, wäre hoch. Und wieder würde die Situation nicht erlauben, mir
bewusst zu machen: Was tu ich hier eigentlich? Ist dies wirklich das, was ich will?
Seit  längerem  gehe  ich  davon  aus,  dass  wir  durch  die  Aufstellungsarbeit  die  Möglichkeit
haben, die Entwicklung, für die wir normalerweise viele Leben brauchen, zu beschleunigen,
indem wir viele der Erfahrungen, die wir machen müssen, bereits in diesem Leben machen
können, nämlich als Stellvertreter in Aufstellungen. Allein wenn wir als Frauen in Männer-
Rollen stehen oder umgekehrt, können wir etwas erfahren und verstehen, was uns sonst ver-
schlossen bliebe.
Hier kommt noch etwas anderes hinzu. Diesmal geht es nicht bloß um ein Mehr an Erfahrung,
sondern um eine andere Erfahrung, eine neue Qualität, eine Verwandlung. Diese neue Erfah-
rung erlangen wir nicht, indem wir etwas Neuem, bisher Unbekanntem begegnen. Möglicher-
weise kennen wir dieses Geschehen schon, aus diesem oder einem früheren Leben. Doch bis-
her haben wir es nie bewusst durchleben können, sondern nur reflexhaft. Und so geht es dann
weiter, so lange, dass sich aus „himmlischer“ Perspektive die Frage stellt: „Wie lange willst
du das noch so machen?“
Die Möglichkeit, aus dieser Wiederholung hinaus zu treten und etwas anderes zu versuchen,
diese Möglichkeit ergibt sich nur, wenn wir solche Stress-Situationen ausbremsen, wenn wir
den Ablauf des Geschehens verlangsamen. Nur so war es mir in der geschilderten Aufstellung
(als Stellvertreter des Bruders) möglich, meine innere Haltung langsam, schrittweise zu ver-
ändern,  genau  genommen:  zu  beobachten,  wie  meine  Haltung  sich  verändert,  und  zu  einer
anderen Lösung zu kommen.
Damit das geschehen konnte, war es nötig, dass die Anleiterin die Aufstellung nicht voreilig
abgebrochen hat. Auf der sichtbaren Ebene passierte ja fast nichts. Nach den zeitgenössischen
Maßstäben für Unterhaltung ist da ja total langweilig. Wenn sich etwas so langsam und ohne
dramatischen Ausdruck entwickelt – das muss man auch als Aufsteller erst einmal aushalten.

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Über „geistige Aufstellungen“ schrieb uns jemand, die könnten sich nur ergeben, „wenn die
ganze Seele das erfüllen kann. Das leistet aber meine Seele und nicht ich.“ Das Wort Seele
verwende ich ungern, weil verschiedene Leute sehr Verschiedenes darunter verstehen. Ent-
sprechend unklar ist, in welcher Weise die Seele sich von dem „ich“ unterscheidet. Bei der
Gelegenheit äußerte der Schreiber auch seine Abneigung gegen Versprechen der „Selbst-
optimierung“, die „in der Psycho- und auch Aufsteller-Szene hoch im Kurs“ seien.
Auch darunter konnte ich mir wenig vorstellen. Was „in der Psycho- und Aufstellungsszene“
gerade angesagt ist, davon bekomme ich wenig mit, weil auf unserer kleinen Baustelle, eben
der geistigen Aufstellungsarbeit, immer viel Betrieb ist. Was mit „Selbstoptimierung“ gemeint
sein könnte, davon habe nur ich eine vage Vorstellung, und zu dem, was ich mir da vorstelle,
teile ich die Abneigung des Briefschreibers.

In unserem Herbsturlaub hatten Ursula und ich zwei Bücher mit, die scheinbar auf ganz Ähn-
liches zielen, was man vielleicht mit „Selbstoptimierung“ bezeichnen könnte.
Das eine davon, Die Methusalem-Strategie erklärt, wenn wir eben dieser Strategie folgten,
könnten wir bei bester Gesundheit 110 Jahre alt werden. Aus der Werbung: „Die Methusalem-
Strategie verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, der alle wesentlichen Lebensbereiche umfasst.
Dazu gehören eine Lebensaufgabe, Bewegung, Ernährung, das Selbst und die Gemeinschaft.“
Nicht zu vergessen Nahrungsergängzungs-Mittel, die im Vertrieb des Autors erhältlich sind.
Gerade unterlief mir die Fehlleistung, dass ich „Methusalem-Strategier“ schrieb. Ja, das passt
schon. Die Verheißung, 30 Jahre mehr zu leben als derzeit erwartbar, erinnert mich an ein
anderes Buch: Der Mann, der tausend Jahre alt werden wollte. 1  „Wozu?“, frage ich mich da.
Wenn einem 80 Jahre Leben nicht reichen, könnten dann 110 genug sein? Diese Gier nach
„mehr Leben“, wo führt sie uns denn hin? Mehr vom Gleichen führt nur in die Enttäuschung.
Dieses Buch enthält keineswegs nur eitle Geschwätzigkeit, wenngleich mehr als genug davon.
Etwa zehn Seiten hatten wir darin gelesen, als wir schon genug hatten. Es reichte uns, als wir
auf die landläufige Floskel stießen, wir hätten nur ein Leben. Und wir klappte es endgültig zu
nach der Darstellung, in grauer Vorzeit wären ein paar Moleküle auf einander gestoßen, hätten
sich zufällig zu einem Protein verbunden und dann vermehrt. So sei das Leben entstanden,
aus heiterem Himmel. Dies wäre ein Himmel ohne Gottheit.

1
Eine Märchen-Sammlung zum Thema Tod, herausgegeben von Thomas Schäfer. Gibt es nur noch antiquarisch,
aber das ist im Zeitalter des Internets ja kein Problem mehr.

Diesem Glauben zufolge wäre der Mensch selbst sein eigener Schöpfer, und zu seiner Ver-
vollkommnung muss er nur noch die richtige Technik, die richtige Strategie bekommen.
Solche Konzepte erkennen nur das an, was die fünf Sinne zu erfassen vermögen. Mehr als das
kann, darf es nicht geben. Und das soll „ganzheitlich“ sein? Ich finde das eine recht armselige
Vorstellung von Ganzheit.

Das andere Buch aus unserem Urlaub ist Die Weisheit eines Yogi. Der Verfasser, Sadhguru,
schreibt darin, jeder Mensch könne Schöpfer seines Lebens sein. Nein, nicht „könnte sein“.
Er sagt: „Ich bin der Schöpfer meines Lebens.“ Wir machen das selbst, wie wir unser Leben
erleben, nur eben auf unbewusste Weise. Sadhguru: „Um Situationen so zu gestalten, wie du
sie haben willst, musst du zuerst einmal wissen, wer du bist. Der Haken an der Sache ist, dass
du das noch nicht weißt.“
Warum aber ist Selbsterkenntnis so entscheidend? Die übliche Strategie, wenn wir unser
Leben verbessern wollen, läuft daraus hinaus, dass die Welt um uns herum anders sein sollte,
als sie ist. Es würde mir besser gehen, wenn meine äußeren Lebensumstände (Beruf, Geld,
Wohnung etc.) anders wären und wenn sich die Menschen im Feld meiner Beziehungen
anders wären, als sie sind. Allein, so viel Lebenserfahrung hat jeder um zu wissen, dass das
nicht funktioniert. Trotzdem suchen wir oft nach Ursachen und Lösungen für unsere Probleme
irgendwo da draußen. Stattdessen also: Erkenne dich selbst!
Wenn unsere Vorstellung von Selbst nicht über das hinaus geht, was wir mit unseren Sinnen
erfahren, wo soll dann eine neue Qualität herkommen? Dann kann „Selbstoptimierung“
immer nur „Mehr von Gleichen“ sein.
Etwas ganz Anderes wäre, „dies zu erkennen: Ich bin voll und ganz verantwortlich für alles,
was ich bin und alles, was ich nicht bin, für meine Freude und meinen Jammer. Ich bin es, der
entscheidet, welcher Art meine Erfahrung in diesem Leben und darüber hinaus ist. Ich bin der
Schöpfer meines Lebens“ (Sadhguru). Oder, wie wir es beim Familienstellen oft sagen: Glück-
lich sein braucht eine Entscheidung! Nämlich die Entscheidung, glücklich sein zu wollen.
Aber ist glücklich sein nicht der tiefste Wunsch eines jeden? Gewiss! Nur – wer verhält sich
denn danach? „Ärger, Zorn, Eifersucht, Schmerz, Gekränktsein und Depression“, schreibt
Sadhguru, „sind Gifte, die du selbst trinkst, dabei aber erwartest, jemand anders würde daran
sterben.“ Das ist sehr drastisch formuliert, stimmt aber, wenn wir ehrlich sind. Wir versuchen,
wie unbewusst auch immer, jemand anderes für unser (so empfundenes) Unglück verantwort-
lich zu machen und zu bestrafen. Aber wer wäre denn wirklich verantwortlich?
Sadhguru: „Das ist eine große Frage. Stellen wir sie genauer: Wer ist dafür verantwortlich,
wie du jetzt gerade bist? Deine Gene? Dein Vater? Deine Mutter?“ Das wären jedenfalls in
der Psychotherapie die üblichen Verdächtigen. Manche Familiensteller, die auch noch nach
diesem Schema vorgehen, haben etwas Wesentliches der Hellinger-Arbeit nicht verstanden.
Es geht nicht darum, herauszufinden, wer schuld ist an meinen Problemen. Es geht darum,
anzuerkennen, was ist, die anderen sein zu lassen, wie sie sind, und selber weiter zu gehen.
Auf eine andere Ebene, vielleicht.

 

 

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Eine Corona-Aufstellung
Bei unserem Dezember-Seminar hatten wir eine Aufstellung zu „Corona“ – womit nicht die
Erkrankung  der Atemwege,  sondern  jene  des  Geistes  gemeint  ist.  Genauer  ging  es  darum,
dass  etwas  wie  eine  gläserne Wand  zwischen  den Anhängern  der  unterschiedlichen Auffas-
sungen zum Thema jedes Gespräch, jede Verständigung unmöglich mache.
Die Aufstellung begann mit einem Vertreter für jede der beiden Parteien und einem für „die
Wand“. Ich selbst war in er Rolle einer Seite. Wer für wen genau ich stand, war nicht gesagt
worden, und ich bin mir nach wie vor nicht sicher darüber.
Die Stellvertreterin der anderen Partei hingegen ist sich da sicher. Sie berichtete später: „Ein
erster Gedanke war: ‚Oh Klasse, wenn ich jetzt in die Rolle der für mich in meinem Alltag
‚Anderen Seite’ komme, dann verstehe ich vielleicht was von deren Einstellung, Verfassung.
Aber ich fand mich in meiner gewohnten Seite, allerdings gereifter. Keine Defensive dabei.“
In der Aufstellung war „das trennende Element“ ständig in unruhiger Bewegung, in meiner
Wahrnehmung: Es zappelte albern herum, und ich ärgerte mich darüber. Von meinem Gegen-
über wollte ich überhaupt nichts wissen, wollte diese Person auch nicht anschauen. Statt des-
sen ging mein Blick auf einen Punkt in der Ferne.
Als ich dorthin schaute, wurde ich ruhig, aber auf eine unheimliche Art und Weise. Ich fühlte
mich wie ein Kampf-Roboter. Ich wusste: Wenn jetzt jemand auf den „Ein“-Schalter drückt,
marschiere ich los und tue, wozu ich programmiert bin. Das sagte ich auch.
Es war aber auch ein Gefühl in mir, das damit nicht im Einklang war, eine Stimme, die sagte:
„Ich  will  das  nicht.“  Mein  Blick  wanderte  weiter  auf  die  „zwei“.  Dort  wurde  ein  weiterer
Stellvertreter hingestellt. Es zog mich dorthin, fühlte mich aber sehr unsicher. Ich hatte keine
Ahnung, wer oder was dort stand und was es mit mir tun würde, wenn ich dort hin ginge.
Schließlich fasste ich mir ein Herz und ging bangen Herzens zu diesem Etwas. Als ich ankam,
war es freundlich. Ich konnte erleichtert durchatmen. Dann lehnte ich mich mit dem Rücken
an dieses Etwas und schaute zurück auf die Szene, aus der ich gerade gekommen war. Nun
sagte das „Etwas“: „Für euch ist das alles sehr schwer. Aber ein Atemzug von mir entspricht
10.000 Jahren für euch.“
Die Vertreterin der „anderen Seite“ machte eine Art Friedensangebot: Ob wir uns nicht wieder
vertragen wollten?, oder so ähnlich. Ich blieb jedoch sehr distanziert, und mir kam der Satz:
„Es ist zu viel kaputt gegangen.“
Die Vertreterin der „anderen Seite“ berichtete mir später: „Es war für mich (in der Rolle) be-
stürzend, daß du so gequält wirktest, und dich durch mein Wohlwollen auch noch belästigt
fühltest,  dich  gequält  abwandest.  Deine  Erleichterung  bei  dem  „Etwas“  hat  auch  mich  ent-
spannt.  Dessen  Satz  mit  den  10.000  Jahren  nahm  meinem  Gefühl  ‚Dann  ist es halt so. Ich
kann nichts für diese Seite tun’ das Resignative. Aus der Sicht der Ewigkeit hat deine Seite
auch ihre Richtigkeit oder Bedeutung für den Lauf der Dinge, für den Prozess. Das ‚Etwas’
hatte  für  mich  die  Bedeutung  von  Weltgeschichte,  das  Schicksal  dieser  Erde,  ‚Das  Große
Allumspannende’.“
Thomas

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Montag, 8. Februar 2021

Die größere Bewegung und der nächste Schritt
Eigentlich  wollte  ich  endlich  an  den  Rundbrief  vom  Januar  letzten  Jahres  anschließen  und
etwas über Ahriman schreiben, bei der Gelegenheit auch etwas über Atlantis und die aktuelle
Situation in dem Zusammenhang. Nicht, dass mir zur Aufstellungsarbeit nichts mehr einfällt.
Zum  geistigen  Familienstellen  gehört  dazu,  über  die  geistige Welt  in  ihrer Vielfalt  nachzu-
denken, zu lesen und zu lernen, und uns in der Aufstellungspraxis auf diese andere Dimension
zu beziehen.
Gehört  das  dazu?  Wieso?  Das  möchte  ich  im  Folgenden  erklären.  Dazu  greife  ich  etwas
weiter  zurück  und  skizziere,  was  die Aufstellungsarbeit  nach  Bert Hellinger eigentlich aus-
macht. Vieles Elemente davon sind bekannt, da habe ich keine überraschenden Informationen
anzubieten.  Wenn  man  sie  im  Zusammenhang  betrachtet  und  sich  klar  macht,  was  sie
bedeuten, wird die geneigte Leserin vielleicht doch sagen: „Ach, das war mir nicht so klar.“
Also:

Psychologie und Psychotherapie befassen sich damit, wie sich bestimmte Muster, nach denen
wir unsere Umwelt wahrnehmen und unsere Beziehungen gestalten, aus unseren Erfahrungen
(besonders in der Kindheit) herleiten, und was wir daran ändern können, wenn wir mit diesen
Mustern unglücklich sind. Der Grundgedanke dabei ist, dass diese Muster die Wirkung von
Ursachen sind, an die wir uns (gegebenenfalls mit Hilfe einer Therapeutin) erinnern können,
die  wir  dann  „therapeutisch  bearbeiten“  können,  und  dann  geht  es  uns  besser.  Andere
Therapieformen  kümmern  sich  nicht  groß  um  die  Ursachen,  sondern  zielen  gleich  auf  eine
Veränderung des Verhaltens.
Bert Hellinger war eher dem zweiten Ansatz zugeneigt. Jedenfalls heißt es in einer Geschichte
von ihm: „Nicht am Wissen liegt es, wenn einer auf dem Wege stehen bleibt und nicht mehr
weiter will. Denn er sucht Sicherheit, wo Mut verlangt wird, und Freiheit, wo das Richtige
ihm  keine  Wahl  mehr  läßt.“  Um  uns  ein  Herz  zu  fassen,  das  Richtige  zu  erkennen  und
anzuerkennen, also das Notwendige zu tun, müssen wir nicht unsere Kindheitserinnerungen
analysieren.
In der frühen Zeit seines systemischen Familienstellens fragte er zwar oft nach Ereignissen in
der Familie, aber dann ging es in der Regel darum nachzuprüfen, ob sich das, was das Bild
der Aufstellung zeigt, bestätigen lässt oder nicht, wenn man die Älteren in der Familie fragt,
die möglicherweise etwas darüber wissen oder wenigstens gehört haben. Das war Forschungs-
arbeit in der Entwicklung der neuen Methode.
Später hat Hellinger das weggelassen. Die Erfahrung zeigt, dass Aufstellungen recht zuver-
lässig Auskunft geben – vielleicht nicht genau über das, was vor Jahrzehnten gewesen sein
mag  oder  auch  nicht,  aber  über  das,  was  zu  tun  für jemanden  richtig und notwendig wäre,
über den „nächsten fälligen Schritt“.   2
Die Erfahrung zeigte aber noch etwas anderes, nämlich dass die Ursachen für jene Muster in
unserem Erleben oder Verhalten nicht in unserer eigenen Lebenserfahrung liegen müssen. Sie
können  auch  aus  einer  früheren  Generation der Familie stammen, besonders, wenn wir mit
einem  „ausgeschlossenen“  (missachteten  oder  vergessenen)  Mitglied  des  Familiensystems
„identifiziert“ oder „verstrickt“ sind. Da führen uns Aufstellungen zu Ereignissen „vor unserer
Zeit“, und die heilsame Handlung ist dann, dass die „ausgeschlossene“ Person als zum System
gehörig anerkannt wird.
Das System wirkt, als ob es einen eigenen Willen habe, jenseits von dem, was seine einzelnen
Mitglieder  denken,  wollen  oder  fühlen.  Es  erzwingt  seine  Vollständigkeit.  Jeder,  der  zum
System dazugehört, hat das gleiche Recht dazuzugehören wir alle anderen auch – so lautet die
erste  der  systemischen  Ordnungen,  die  Bert  Hellinger  erkannt  und  gelehrt  hat.  Diese  Ord-
nungen sind nicht verhandelbar. Sie wirken unabhängig davon, ob wir ihnen zustimmen oder
nicht. Wir können uns natürlich gegen die Ordnungen verhalten, aber dann werden wir dafür
bezahlen. Das ist eine Tatsache, die in zahllosen Aufstellungen immer wieder festgestellt wird.
Damit verlassen wir das Feld der Psychologie und auch der herkömmlichen Psychotherapie.
Und wo kommen wir dann hin? Wir beginnen jedenfalls, bewusst mit transzendenten Kräften
umzugehen, mit einer Wirklichkeit jenseits dessen, was wir mit unseren körperlichen Sinnen
wahrnehmen können. Was bleibt da von Idealen wie Selbstbestimmung, freier Wille und der-
gleichen? Sie bleiben, was sie waren: Ideologie, ohne Substanz.
Vor einem Jahr hatte ich über „geistige und emotionale Felder“ geschrieben: „Sie   wirken auf
uns in einer Weise, als ob sie Wesenheiten mit bewussten, persönlichen Absichten wären. Das
sind sie aber nicht. Sie sind gestaltete Energie, von Menschen gestaltet.“ 1  Weder erschaffen
wir diese Felder bewusst, noch ist uns die Rückwirkung dieser Felder auf uns bewusst. Erst
durch  die Aufstellungsarbeit  können  wir  uns  ihrer  bewusst  werden.  Dort  können  wir  beob-
achten, wie Verstrickungen wirken und gelöst werden können. Dort erleben wir, dass es weh
tut, wenn wir uns gegen die Ordnungen auflehnen und dass es gut tut, wenn wir uns ihnen
fügen.
Bert  Hellinger  hat  sich  vor  2000  selbst  als  Familientherapeut  verstanden.  Zahlreiche
psychologische Therapeuten hatten sich für seine Arbeitsweise interessiert, denn die war nicht
nur neu und anders, sondern auch äußerst wirksam. Viele von ihnen haben sich bald gegen ihn
gewandt,  als  sie  merkten,  wie  anders  seine Arbeit  tatsächlich  war,  ganz  anders  nämlich  als
ihre eigene Ideologie, beziehungsweise ihr „Welt- und Menschenbild“ 2 .
Die Hinwendung zum Metaphysischen, Übersinnlichen, kam also nicht erst mit dem „geisti-
gen Familienstellen“ Mitte der 2000er Jahre. Sie war schon vorher da, auch im klassischen
Familienstellen  nach  Hellinger.  Das  Metaphysische  liegt  schon  in  den Wahrnehmungen  der
Stellvertreter.  Diese  Wahrnehmungen  werden  in  der  Hellinger-Arbeit  als  etwas  Reales  und
Wesentliches anerkannt. Sie sind der Dreh- und Angelpunkt dieser Arbeit.
Allerdings  war  das  Metaphysische  im  klassischen,  systemischen  Familienstellen  auf  die
geistigen  und  emotionalen  Felder  der  jeweiligen  Familiensysteme  beschränkt.  Für  die
psychologische  Therapie  geht  das  schon  viel  zu  weit.  Mit  dem  geistigen  Familienstellen
gehen  wir  aber  noch  weiter.  Was  die  Anliegen  der  Menschen  betrifft,  die  zu  uns  zum
Aufstellen  kommen,  geht  es  in  der  Regel  nach  wie  vor  um  Konflikte  in  Beziehungen,
meistens  innerhalb  der  Familie,  oder  um  Krankheiten.  Wir  bleiben  aber  offen  für  die
Möglichkeit, dass die Ursache für das Anliegen, das verborgene Wesentliche, ganz woanders
liegt.

1
in unserem Rundbrief 01/2020
2
So hieß es in der Anti-Hellinger-Erklärung der Systemischen Gesellschaft von 2004.

Ob  die  Impulse,  welche  die  Stellvertreter  ergreifen,  aus  dem  Feld  des  Familiensystems
kommen oder aus einem anderen, ist oft nicht klar zu erkennen. Die Grenzen sind fließend,
und  unsere Vorgehensweise  beim Aufstellen bleibt im Großen & Ganzen die gleiche. Dazu
werde ich gleich ein Beispiel vorstellen. Vielleicht stimmt das auch gar nicht, und es kommt
uns  nur  so  vor,  weil  wir  kaum  jemals  anderen  Aufstellern  bei  der  Arbeit  zuschauen  und
eigentlich gar nicht vergleichen können. Andere würden vielleicht schon Unterschiede sehen.
Nehmen wir aber mal an, es gebe kein Unterschied der Methode. Worin liegt dann der Unter-
schied?  Er  liegt  im  Horizont  der  Betrachtung.  In  der  oben  beschriebenen  Entwicklung  von
psychologischer  Therapie  bis  zu  Hellingers  Bewegungen  des  Geistes  können  wir  eine  Er-
weiterung des Horizontes erkennen: Erst geht es nur um das Individuum mit seinen Neurosen
und  seinen  Eltern,  dann  wird  die  Familie  als  ein  zusammenwirkendes  System  betrachtet.
Dann,  beim  Familienstellen  nach  Hellinger,  wird  die  Familie  zusammen  mit  den  vorigen
beiden Generationen betrachtet, und auch Täter oder Opfer von Verbrechen können zu Teilen
des Systems werden, oder frühere Partner der Eltern oder Großeltern.
Beim geistigen Aufstellen schieben wir unseren Horizont noch weiter hinaus, wie Hellinger
gern sagte: „In eine andere Dimension“. In unserem Rundbrief vom letzten November zum
Stichwort Karma habe ich darauf hingewiesen, dass wir sowohl die Menschheit als ganze als
auch jeden einzelnen Menschen in einer langen Reihe von Erdenleben in seiner Entwicklung
betrachten.  Wenn  wir  unsere  Leiden  und  unser  Glück,  unsere  Taten  oder  auch  Untaten  als
Schritte auf einem solchen Reifungs- und  Entwicklungsweg betrachten, dann verbietet sich
jedes moralische Urteil.
Ich habe mal gelernt, bei Fürbitten, bei denen ich also um Hilfe für eine andere Person bitte,
oder  auch  mich  selbst,  anzufügen:  „…  wenn  es  zu  ihrem  höchsten  Wohl  ist.“  Worin  liegt
dieses  „höchste  Wohl“?  Im  Fortschritt  auf  diesem  Entwicklungsweg.  Und  wo  sich  jemand
jetzt, in diesem Leben, auf seinem Entwicklungsweg befindet, können wir nicht wissen. Wenn
also  jemand  mit  einem Anliegen  zum Aufstellen  kommt,  weiß  sie  zwar,  wo  sie  der  Schuh
drückt.  Vielleicht  weiß  sie  auch,  was  sie  erreichen  will. Aber  kann  sie  selbst  oder  wir  als
Aufsteller wissen, was sie wirklich braucht?
Wir können davon ausgehen, dass wir die richtigen Eltern haben und die richtigen Lebens-
umstände, um die Erfahrungen und Lernschritte zu machen, die wir in diesem Leben machen
sollen. Wir bekommen die Fähigkeiten und auch die Schwierigkeiten, die wir brauchen, um
an  ihnen  zu  wachsen  und  unsere  Lebensaufgabe  zu  erfüllen.  Worin  diese  Lebensaufgabe
besteht, müssen wir nicht wissen. Wenn wir beim Aufstellen „mit dem Geist gehen“, bedeutet
das,  dass  wir  im  Einklang  mit  jener  größeren  Bewegung,  in  die  wir  eingebunden  sind,
herausfinden, was das Notwendige ist, das „Richtige, das uns keine Wahl mehr lässt“, oder
anders gesagt: der „nächste fällige Schritt“.

Thomas Gehrmann
Von Virginia Satir, der „Lucy“ des Familienstellens,
ist dieses Zitat überliefert:

„Um zu überleben, brauchen wir vier Umarmungen pro Tag,
acht, um uns gut zu fühlen und
zwölf, um innerlich zu wachsen.“

Man könnte darüber streiten,
was die Bedingungen für inneres Wachstum sind.
Da aber Weihnachten vor der Tür steht, wollen wir nicht streiten.

Statt dessen wünschen wir dir,
dass du all die Umarmungen bekommst, die du brauchst.

Fühl dich auch von uns umarmt,
wann immer dir danach ist.
Herzliche Grüße,

Ursula & Thomas

Das ISM verschickt monatlich einen Rundbrief. Der enthält unsere aktuellen Seminar-Termine sowie Gedanken und Erfahrungen aus der Aufstellungsarbeit, manchmal auch einen kurzen Text von Bert Hellinger. Wer diesen Rundbrief zugeschickt bekommen möchte, möge uns seine E-Mail- oder Post-Adresse mitteilen.

Rundbrief Familienstellen 11 2020  

Gedanken über das Karma
 
Ich erinnere mich, dass Bert Hellinger einmal von Karma sprach, 2009 in Köln. Es war aller-
dings nur ein kleines Zitat von Sai Baba: „Liebe beendet alles Karma.“ Da er in diesem Fall
vor Osho-Sannyasins sprach, war es natürlich eine kleine Provokation, die „schmutzige Kon-
kurrenz“ zu zitieren. Was die Sache an sich betrifft, äußerte er sich nicht weiter. Es war wohl
nur ein kleiner Hinweis, dass ihm das Konzept eines Karmas geläufig war. Doch was besagt
dieses Konzept eigentlich?
Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal von Karma hörte, verstand ich es so, dass man für
schlechtes Verhalten in einem früheren Leben in einem späteren die Quittung bekommt und
das,  was  man  einem  anderen  angetan  hat,  nun  selbst  erleiden  muss.  Manche  Leute  haben
daraus auch geschlossen, dass, wenn man in diesem Leben Übles erleidet, dies ein Zeichen
dafür sei, dass man in einem früheren Leben irgendeine Schurkerei begangen haben muss.
Man mag davon halten, was man will. Hat dieses Karma-Denken etwas mit der Aufstellungs-
arbeit zu tun? Es erinnert mich jedenfalls an die dritte von Hellingers sogenannten Ordnungen
der Liebe, den Ausgleich von Geben und Nehmen. Diese Ordnung besagt, dass es ein natür-
liches, instinktives Bedürfnis sei, wenn man etwas bekommen hat, auch etwas zurückzugeben.
Andernfalls fühle man sich in der Schuld, nämlich dass man dem anderen etwas schuldig ist.
Dieses Bedürfnis nach Ausgleich ist nicht beschränkt auf das Gute, was man bekommt, es gilt
ebenso für das Schlimme. Auch das verlangt nach Ausgleich, damit eine Beziehung wieder in
die Balance kommen kann. Man könnte also sagen, dass das Karma über mehrere Leben hin-
weg  in  diesem  Sinne  ausgleichend  wirkt.  Wieso  aber  könnte  Liebe  dann  Karma  beenden?
Etwa,  indem  das  Opfer,  großmütig  und  voller Liebe, dem Täter seine Verbrechen verzeiht?
Solches Verzeihen, so habe ich Hellinger verstanden, ist überheblich und verletzend. Es zeigt
dem Bösen, was für ein niederer Wurm er ist, im Gegensatz zu einem selbst. Das stiftet keinen
Frieden im Sinn der Ordnung des Ausgleichs.
Nun  ist  diese  Ordnung  aber  ein  bisschen  komplizierter  als  nur  empfangen  und  dem  Geber
etwas  zurückgeben.  Da  ist  nämlich  die  große Ausnahme,  dass  Kinder ihren Eltern, was sie
von  ihnen  bekommen  haben,  nicht  zurückgeben  können.  Die  schlaflosen  Nächte,  als  wir
Zähne bekamen, die Sorgen, wenn wir nach der Schule nicht pünktlich nach Haus kamen, der
Ärger, den sie mit uns in der Pubertät aushielten – all das können wir ihnen nicht erstatten.
Was  wir  von  unseren  Eltern  bekommen  haben,  das  können  wir  nur  an  die  Nachkommen
weitergeben.
Das Leben ist also ein Fluss. Es steht nicht, sondern geht immer weiter. So ist auch der Aus-
gleich von Nehmen und Geben nichts Statisches, das durch abgemessenes Zurückgeben immer
wieder in seinen früheren Zustand zurückversetzt werden müsste. Leben bedeutet auch Fort-
schritt, und um fortzuschreiten brauchen wir Ungleichgewicht: Wie beim Gehen verlagern wir
unser Gewicht nach vorne und tun einen Schritt! „Wer dient dem Fortschritt mehr,“ fragte Hellinger, „die Guten oder die Bösen?“ Und er gab
dann selbst zur Antwort: „Die Bösen!“ So verstand er auch den anstößigen Satz des Heraklit,
dass der Krieg der Vater aller Dinge sei. Wer oder was sagt uns denn, was gut sei oder böse?
Das sagt uns zuverlässig unser Gewissen. Das Gewissen jedoch ist keineswegs so absolut, wie
es  gerne  tut.  Seine Werte sind wandelbar und von einer Familie (Gruppe) zur anderen ver-
schieden.
Das  Gewissen  sagt:  „Hier  ist  die  Grenze!  Geh  nicht  darüber  hinaus!“  Das  sagt  es  jedem
Menschen. Doch wo diese Grenze liegt, gilt nicht für jeden. Mein Gewissen sagt mir an einer
anderen Stelle als deines: „Stopp!“ Damit es nun Fortschritt gibt, muss hin und wieder jemand
den Mut haben, doch über seine Grenze hinaus zu gehen. Der Preis für dabei ist, dass man den
Anspruch auf Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe riskiert, vielleicht auch verliert.
Doch auch abgesehen von solchen Fortschritts-Impulsen gibt es in der Ordnung von Nehmen
und Geben ein dynamisches Element. Und hier kommt die Liebe ins Spiel. Hellinger nahm als
Beispiel  gern  die  Liebe  in  der  Paarbeziehung:  Wenn  der  eine  Partner  dem  anderen  etwas
Gutes tut, fühlt der andere das Bedürfnis, seinerseits auch dem anderen etwas Gutes zu geben
– aber ein bisschen mehr. Und wenn der eine dem anderen etwas Böses antut, muss der auch
das heimzahlen – aber ein bisschen weniger. Und so wächst die Liebe in der Beziehung.
Was wäre, wenn wir nicht nur ein bisschen, sondern viel mehr zurückgäben? Dazu hat Bert
Hellinger  einen  sehr  deutlichen  Aphorismus  geschrieben:  „Kleine  Geschenke  erhalten  die
Freundschaft. Große machen sie kaputt.“
Auch die Sache mit dem Karma ist etwas komplizierter als die erste Idee, die ich davon hatte.
Ein  Blick  ins  Lexikon  klärt  uns auf, dass das Wort Karma einfach „Handlung“ heißt. Aber
was bedeutet da? Jede Handlung (vielleicht auch jedes ausgesprochene Wort, oder sogar jeder
Gedanke, viellich sogar jeder Wunsch) hat Folgen. Sie hat eine Wirkung. Sogar eine doppelte
Wirkung: erstens auf andere, dann aber auch auf uns selbst. Jede Handlung hat Folgen, die
auch auf uns selbst zurückkommen. Wenn nicht in diesem, dann in einem späteren Leben.
Die Vorstellung, „schlechtes Karma“ bedeute soviel wie „Strafe für unsere Sünden“ in einem
früheren Leben, gutes Karma hingegen den Lohn für unsere guten Taten, ist nachvollziehbar,
aber  naiv. Sie berücksichtigt nicht, dass unsere Vorstellungen von gut und böse, falsch und
richtig  über  die  Jahrhunderte  nicht  gleich  bleiben.  Für  die  mittelalterliche  Idee,  dass  man
Hexen verbrennen oder ersäufen müsse, gäbe es (in unserer Kultur) heute keine Bonus-Punkte
mehr. Damals schon.
Auch an diesem Beispiel können wir sehen, dass es einen Fortschritt in der Entwicklung der
Menschheit gibt, sagen wir: Eine Entwicklung hin zu mehr Freundlichkeit in der Welt. Damit
es aber solch eine Entwicklung hin zu mehr Mitgefühl überhaupt geben kann, braucht es die
Erfahrung, wie es sich anfühlt, wenn man Gewalt, Erniedrigung oder Kummer leidet. Wer das
nie  gefühlt  hat,  kann  auch  nicht  mit  anderen  mitfühlen. Menschheitsgeschichtlich brauchen
wir die Erfahrung von Krieg und Gewalt, damit wir uns zu Mitgefühl und Freundlichkeit hin
weiterentwickeln können.
Mag sein, dass Karma auch den Sinn hat von „Schulden müssen bezahlt werden!“ Das andere
scheint mir wichtiger: Damit wir lernen, was wir (als gesamte Menscheit) für unsere Entwick-
lung lernen müssen, müssen wir (jeder einzelne) durch jede Erfahrung hindurch gehen, die es
im Leben zu erfahren gibt, sowohl als Gebender wie als Nehmender, als Täter wie als Opfer.
Das ist der unvermeidliche Weg.
Wenn wir angekommen sein werden, ganz in der Liebe angekommen – in jener Liebe Christi,
die alles heutige menschliche Begreifen noch übersteigt, dann endet auch alles Karma.

Rundbrief Familienstellen 09 2020

Ohne Gewissen
Ab  und  zu  schaue  ich  in  alte  Videos  mit Aufstellungen  und  Vorträgen  von  Bert  Hellinger.
In einem aus dem Jahr 2013 hörte ich ihn sagen: „Dieses Familienstellen hat keinen Inhalt“.
Ein rätselhafter, ein erklärungsbedürfiger Satz. Über dieses, also das geistige Familienstellen,
sagte  er  weiter,  es  sei  „ohne  gut,  ohne  böse.  Völlig  gewissenlos.“  Mancher  Hörer  könnte
schockiert sein: „Gewissenlos? Wäre das nicht schrecklich?“
Doch  auch  Ursula  und  ich  sagen beim Familienstellen  den  Teilnehmern  unserer  Aufstellungsgruppen
immer  wieder:  „Wenn  du  als  Stellvertreter  stehst,  dann  versucht  bitte  nicht,  ‚gut’  zu  sein.
Sei authentisch! Was ist, ist. Was nicht ist, ist nicht. Als Aufstellungsleiter brauchen wir, dass
die  Stellvertreter  unverfälscht  das  zum Ausdruck  bringen,  was  sie  innerlich  wahrnehmen.“
Ein  Beispiel:  Vor  Jahren  nahm  eine  Frau,  eine  Therapeutin,  zum  ersten  Mal  an  einer Auf-
stellung  teil.  Als  Stellvertreterin  stand  sie  einer  Frau  gegenüber,  die  bekümmert  war  und
weinte. Sogleich nahm sie die Weinende in den Arm und wollte sie trösten. Wir stoppten sie
und sagten: „Versuch bitte nicht, gut zu sein!“ Und sie antwortete empört: „Aber ich bin so!“
Das mochte ja sein, aber es war nicht hilfreich. Für uns als Aufsteller ist es völlig unwichtig,
ob die Teilnehmerinnen privat so oder so sind. In der Aufstellung müssen wir alle, sowohl die
Anleiter als auch die Stellvertreter, zu allererst anerkennen, was ist. Wenn ein Vertreter auf
einen anderen schaut und denkt: „Ich werde immer für dich da sein“, dann ist das so, in dem
Moment. Und wenn er den Satz in sich hat: „Ich wünsche, dass du elend krepierst“, dann ist
das so, wenigstens in dem Moment. Wenn eine innerlich empfundene Wahrnehmung – sei es
ein  klarer  Satz,  sei  es  ein  vages  Gefühl  –  zum Ausdruck  gebracht  wird,  dann  kann  etwas
weiter gehen. Wie genau, das muss man im konkreten Fall sehen. Wenn aber ein Stellvertreter
denkt: „Das kann ich doch nicht sagen!“ und lieber stumm und reglos bleibt, dann geht an
dieser Stelle eben nichts weiter. (Das ist wie im wirklichen Leben.)
„Die Wahrheit, ans Licht gebracht, ist immer heilsam.“ Das ist einer der wichtigsten Lehrsätze,
die Hellinger uns hinterlassen hat. Von was für einer Wahrheit ist hier die Rede? Nur von der
Wahrheit, die sich in diesem Augenblick zeigt. Der nächste Moment hat vielleicht eine neue
Wahrheit – aber nur, wenn zunächst die ältere anerkannt und ausgesprochen wurde.
Wenn wir als Stellvertreter innerlich etwas wahrnehmen, dann aber unserem Gewissen folgen
und denken: „Dies ist gut und das ist nicht gut. Ich werde aber nur tun und sagen, was gut ist“,
dann wird das Schlechte (genauer: was unserem eigenen Gewissen zufolge als schlecht gilt)
wieder nicht anerkannt, das Böse beiseite gedrängt und verleugnet. Und was passiert dann?
Nichts. Dann bleibt alles beim Alten. Dann muss die neue Wahrheit weiter warten, denn noch
ist kein Platz für sie, dass sie sich entfalten könnte.
Ist dieses gewissenlose Aufstellen aber wirklich neu? Schon 1998 hatte Hellinger über seine
Einsichten,  was  das  Gewissen  eigentlich  sei  und  was  es  macht,  geschrieben. Aber  er  hatte
beim Aufstellen nicht darüber gesprochen. Das tat er erst zehn Jahre später, ungefähr. Immer
aber hat er gefordert, die Stellvertreter müssten „gesammelt“ sein. Gesammelt hieß für ihn:
Wie in der Meditation. Leer, ohne Inhalt. Oder eben: Ohne Gewissen.

Rundbrief Familienstellen 05 2019

Nach einem unserer letzten Aufstellungstage bekamen wir einen Brief von einer Teilnehmerin, den wir hier (mit ihrer Erlaubnis) per Rundbrief mit unseren Lesern teilen:

Letzten Samstag war ich das erste Mal bei einer Aufstellung. Zunächst saß ich nur beob­achtend da, mit meinen inneren Widerständen kämpfend, und fragte mich, ob ihr wohl alle bescheuert seid und in den Reaktionen übertreibt.

Außerdem ärgerte ich mich datüber, dass so vieles nicht erklärt und offen gelassen wird.
Ich versuchte beinahe zwanghaft zu begreifen, welche Person oder was gerade dargestellt wurde und hatte nur Fragezeichen im Kopf.

Doch als ich mich schließlich traute, in einer Aufstellung den Platz der Mutter einzunehmen, überkam mich plötzlich eine starke Kraft, und ich wusste ganz genau, dass alles genau so richtig und überhaupt nicht bescheuert ist. Ich war wie von einer höheren Macht geleitet.

Und jetzt wird mir auch klar, warum nur so wenig gesprochen wird. So bleibt mehr Raum für die eigentlichen Zusammenhänge der aufgestellten Familie, weniger überlagert mit den persönlichen Empfindungen der Stellvertreter.

Außerdem ist es allgemeiner gehalten, da sich die Geschichten doch so oft wiederholen.
So fällt es viel leichter, sich selbst und die eigene Familie darin zu erkennen und – selbst, wenn man nur Stellvertreter ist – Heilung zu erfahren.

Manchmal braucht es keine Worte, um etwas zu (er-)klären. Eine wahnsinnige Erkenntnis für meinen sonst so rationalen Geist!

Ich danke euch und bin gespannt auf meine eigene Aufstellung.

Liebe Grüße aus W., Ina

Grundsätzlich freuen wir uns über Rückmeldungen, besonders wenn sie uns vom Verdacht freisprechen, bescheuert zu sein. Vermutlich wird sich mancher beim Lesen erinnern, dass es ihr/ihm einmal ähnlich gegangen ist. Man kann sagen: das Familienstellen ist eine Zumutung.

Dass wir auf unseren Verstand vertrauen und alles, was über die Reichweite unseres rationalen Geistes hinaus geht, zumindest für zweifelhaft, wenn nicht gleich für falsch halten, ist Segen und Fluch der Zeit, in der wir leben. Eine Zeit oder Epoche, die zum Beispiel Rudolf Steiner in Jahrtausenden rechnet. Er benannte verschiedene Epochen der Menschheitsentwicklung, und die, in der wir jetzt leben, ist die der Intellektualität. Im Einklang damit forderte er von seinen Lesern, das, was er mitteilte, nicht einfach zu glauben, sondern zu hinterfragen und zu überprüfen.

Was können wir beim Familienstellen überprüfen? Dass es hinter den Grenzen dessen, was unsere fünf Sinne und der Verstand zu begreifen vermögen, noch etwas Anderes gibt. Daher nennt Bert Hellinger das Familienstellen ja auch einen Erkenntinsweg. Dieses Andere können wir aber nicht in den „Machtbereich“ des rationales Verstandes herein holen. Wir können uns nach dieser Erfahrung nicht mehr so sicher fühlen wie vorher. Darum braucht es Mut, sich auf diesen Weg einzulassen. Und wir freuen uns über jeden, der diesen mutigen Schritt wagt.

Rundbrief Familienstellen 04 2019

Bei Familienaufstellungen geht der Aufsteller rein phänomenologisch vor. Das heißt, er setzt sich einem dunklen Zusammenhang aus, bis ihm plötzlich Klarheit kommt.“ Bert Hellinger

Sammlung und Einklang beim Familienstellen

Was hat eigentlich Systemaufstellung mit Meditation zu tun? Wenn Bert Hellinger je von Meditation sprach, meinte er stets „geführte Meditationen“, Innen-Reisen, bei denen man sich mit geschlossenen Augen vorstellt oder vorstellen lässt, wie in einer Trance. Was man all­gemeiner unter Meditation versteht, das praktiziert er selbst zwar täglich, aber davon redete er kaum. Und was hat das auch mit der Aufstellungsarbeit zu tun? Sehr viel! Er hat daraus auch kein Geheimnis gemacht – nur so, dass er es in einem schwer verständlichen Begriff verbarg.

Von je her hat er seine Form des Familienstellens von herkömmlichen Formen in der sys­temischen Familientherapie stets abgegrenzt und betont, seine Art aufzustellen sei „phäno­menologisch“. Normalerweise ist Hellingers Sprache ganz einfach, manchmal etwas alter­tümlich, aber immer leicht verständlich. Nur dieses eine Wort sticht da heraus – altertümlich in gewisser Weise auch, denn wer befasst sich heute schon noch mit Philosophie – keinesfalls aber ist es einfach und gut verständlich ist es auch nicht. Andererseits sagt Hellinger sowieso „über den phänomenologischen Erkenntnisweg: Wir können ihn nicht verstehen. Wir können ihn nur gehen.“

Ich persönlich mochte den Begriff phänomenologisch schon deswegen nie, weil ich schon Probleme hatte, ihn auszusprechen, ohne zu stolpern. Und was heißt es eigentlich genau? Hellinger: „In dem Wort Phänomenologie steckt das Wort Phänomen. Das ist also etwas, das sich zeigt. Und als Philosoph setze ich mich dem aus, was sich zeigt. Ich brauch mir nichts auszudenken. Ich schaue auf das, was sich zeigt.“ Was aber zeigt sich denn beim Aufstellen?

Ein bekannter Aufsteller schrieb: „Wenn ein Stellvertreter zu Boden fällt, ist es nicht phäno­menologisch zu sagen, ‚Weißt du, was das bedeutet? Jemand in dem System ist plötzlich gestorben’. Man muss streng differenzieren zwischen phänomenologischen Beobachtungen und deren Deutungen. Phänomenologisch betrachtet bedeutet das Hinfallen nur, dass der Stellvertreter zu Boden gegangen ist“.1

Doch ist einfaches Beobachten schon phänomenologisch? Und hat dieses Phänomen, dass ein Stellvertreter plötzlich zu Boden stürzt, gar keine Bedeutung? Natürlich hat es das! Ohne dem hätten phänomenologische Aufstellungen ja keinen Sinn. Und im konkreten Beispiel halte ich es kaum für falsch zu folgern, dass da jemand auf eine plötzliche Art und Weise gestorben ist. Was sollte es denn sonst heißen? Andere Gesten, Bewegungen oder Gefühle von Stellver­tretern sind schwerer zu deuten als diese.

Doch geht es Hellinger überhaupt darum? Eigentlich hat er nie von phänomenologischer Beobachtung gesprochen, sondern von Wahrnehmung. Und diese Wahrnehmung ist ein innerer Vorgang, der mit Beobachten und Deuten wenig zu tun hat. Was er mit dieser Wahr­nehmung meint, beschrieb er gern am Beispiel seiner Erkenntnisse über das Wesen und die Funktion des Gewissens:

Alles, was über das Gewissen geschrieben und gesagt wurde, dem habe ich mich ausgesetzt, sechs Jahre lang, ohne Urteil. Ohne, dass ich irgendetwas wollte. Ich habe mich nur den Phänomenen ausgesetzt. Ich habe das so aus der Ferne beobachtet, und nach sechs Jahren kam plötzlich die entscheidende Einsicht: Das Gewissen entscheidet über Zugehörigkeit“.2 Das schlechte Gewissen signalisiert uns, dass wir mit etwas, das wir tun oder denken, unsere Zugerhörigkeit riskieren, vor allen die Zugerhörigkeit zu unserer Familie.

Diese Erkenntnis kam also nicht aus aktivem Forschen und Nachdenken, sondern sie wurde Hellinger, wie er sagt, „geschenkt“. Darüber, wer oder was ihn da beschenkt, schwieg er stets. Es kommt etwas, wie er zu sagen pflegt, „von woanders her“. Immerhin können wir daraus schließen, dass es für Hellinger eine „Anders-Welt“ gibt, die unserem forschenden Zugriff ent­zogen ist, die uns aber mit Einsichten beschenkt – vorausgesetzt, dass wir in eine ange­messene Haltung gehen.

Was aber macht das Aufstellen nach Hellinger in diesem Sinne phänomenologisch? Vor allem ist es das, was er die „Sammlung“ nennt – ein anderes Wort für Meditation. Wir halten Ab­stand und schauen aus der Ferne. In der buddhistisch geprägten Meditations-Lehre heißt das: Sich nicht identifizieren. Und wir nehmen Abstand von unseren persönlichen Vorstellungen, von un­seren Vorlieben oder Abneigungen. Wir nehmen Abstand von unseren Absichten – ausdrücklich auch der Absicht, jemanden zu helfen. Wir nehmen Abstand von unserer Angst, vor allem der Angst, was andere über uns sagen könnten. Wir nehmen Abstand von unseren Vorstellungen von falsch und richtig, von gut und böse. Und das heißt: Wir distanzieren uns von unserem Gewissen. Wie tun wir das? Wir treten innerlich einen Schritt zurück. Und wenn es sein muss: Noch einen. Wir nehmen Zuflucht in der Leere. Hellinger nennt dies „das reine Bewusstsein“.

Genau diese Haltung ist es, die das phänomenologische Familienstellen nach Hellinger kenn­zeichnet. In dieser meditativen Leere, in der Stille des reinen Bewusstseins, sind wir offen dafür, dass wir das Wesentliche erkennen. Was jemand beim Aufstellen als sein Anliegen be­nennt, ist das Offensichtliche. Das Wesentliche jedoch ist meistens im Dunkeln verborgen.

Hellinger: „Viele von euch haben sich vielleicht gewundert, dass ich einfach so Personen aufgestellt habe. Ich habe sie [die Falleinbringerin] ja gar nicht gefragt, was sie will. Wie komme ich dazu? Ja, ich sammle mich und bin dann im Einklang mit der Person, um die es geht. Und während ich da sitze, sehe ich auf einmal: Links vor der Frau sitzt ein Kind. Dann habe ich eine Person (als Stellvertreter] ausgewählt und sie sich dort hin setzen lassen. Und in meiner Sammlung habe ich dann gesehen, dass hinter ihr jemand steht, und dann, dass hinter dieser Person noch jemand steht.

Also, im Einklang mit dieser Person und mit dem, wohin es führen soll für eine Lösung, habe ich gesehen, was als nächstes kommt. Und zwar immer nur eines: Das Erste, dann das Zweite, dann das Dritte. Nicht alles zusammen. Das also ist der innere Vorgang. Wir können das lernen, dass wir in eine andere Dimension gehen. Weg von den Überlegungen: Was könnte und was müsste geschehen?“3

Weg von unseren Überlegungen, weg vom Ich, hin zur Leere der Meditation, zur Empfäng­lichkeit für eine höhere Kraft, die uns für eine umfassende gute Lösung in den Dienst nimmt.

  Thomas Gehrmann

1 In Praxis der Systemaufstellung 2/2015, S. 30

2 Vortrag in Graz 2013

3 Vortrag in Bad Reichenhall Juni 2011

 


Rundbrief Familienstellen 03 2019

Es sieht so aus, als ob…

In den vergangenen Monaten war ich mit einer Forschungsarbeit über die Anti-Hellinger-Kampagne vor gut fünfzehn Jahren beschäftigt. Dabei fand ich einen Artikel, in dem Aufstellungs-Gegner berichteten, ein Aufsteller (nicht Hellinger selbst!) habe dem Fall­einbringer erklärt, seine Aufstellung habe eindeutig gezeigt, dass sein Vater nicht sein wirk­licher Vater sei. Später hat der betroffene Mann einen Vaterschaftstest machen lassen, und siehe: Der angezweifelte Vater war durchaus sein Vater!

Das war für die Autoren dieses Artikels ein gefundenes Fressen. Dass das Stellvertreter-Phänomen ein Schwindel und das Familienstellen Unsinn sei, das war ja ihre Vermutung. (Auch wenn sie offenbar nie eine Aufstellung erlebt hatten.) Und nun hatten sie den Beweis!

Zumindest ist es ein Beweis dafür, dass manche Aufsteller sich in Zurückhaltung üben sollten. Zwar ist es nachvollziehbar, dass vor allem Anfänger in der Aufstellungsarbeit so fasziniert davon sind, dass sie mit ihren Deutungen auch mal weit über das Ziel hinaus schießen – und in jenen Jahren waren die meisten Aufsteller noch Anfänger. Nachvollziehbar oder nicht, sie schießen über das Ziel hinaus, und das heißt: Erstens haben sie nicht unter Kontrolle, was der Pfeil, den sie abgeschossen haben, im Weiteren anrichtet. Zweitens treffen sie den Punkt nicht, um den es beim Aufstellen geht.

Wir selbst sagen seit Jahren immer wieder, ein Aufstellungs-Seminar ist kein Detektiv-Büro und auch kein Wahrsager-Studio. Wenn immer in Aufstellungen solche „verborgenen Tat­sachen“ auftauchen, sagen wir dazu: „Es sieht so aus, als ob…“ Vielleicht ist es tatsächlich so, wie das Bild der Aufstellung „eindeutig“ zu zeigen scheint, vielleicht aber auch nicht.

Wir erinnern uns an eine Aufstellung, die Hellinger einmal in Köln geleitet hatte. Da sagte er: „Dort ist etwas passiert, und ich weiß auch, was. Aber ich sage es nicht.“ Und er beendete die Aufstellung. Wir rätselten nun, was er wohl in der Aufstellung erkannt haben mochte, und wir kamen zu dem Schluss: Es sah aus wie ein abgetriebenes Kind. Später, nach einer Pause, erklärte Hellinger, er habe mit der Frau noch mal gesprochen. Tatsächlich hatte auch er das Bild der Aufstellung so gedeutet, dass es sich um ein abgetriebenes Kind gehandelt habe.
Die Frau hatte nie eine Abtreibung – allerdings musste einmal eine Eileiter-Schwangerschaft operativ entfernt werden. Andernfalls wäre sie daran gestorben, und der Fötus natürlich auch. Der Irrtum war korrigiert, und Hellinger fing die Aufstellung neu an.

Wir können davon ausgehen, wenn es in einer Aufstellung so aussieht, als sei der Großvater an Verbrechen der Nazi-Zeit beteiligt gewesen, oder dass ein verlorener Zwilling fehlt, oder dass ein anderer Mann der Vater sei, dass irgendwie so etwas tatsächlich der Fall war oder ist.

Der Punkt jedoch, auf den es in der Aufstellungsarbeit nach Hellinger ankommt, ist nicht, irgendwelche Fakten dingfest zu machen, sondern eine unterbrochene Bewegung wieder ins Fließen zu bringen, dass eine (er-)lösende Bewegung geschieht, meistens: dass wir auf je­manden schauen, der fehlt. Die Erfahrung, die wir in einer Aufstellung machen können, dass unsere Sehnsucht zu einer Person hin geht, von der wir nichts wussten, und dass es uns gut tut, wenn diese Person – Zwilling oder nicht – eng neben uns steht, diese Erfahrung verändert uns. Und mehr müssen wir nicht wissen.


Rundbrief Familienstellen 12 2018

Aufstellung für einen Holz verarbeitenden Betrieb

An diesen Hellinger-Tagen im Herbst 2018 war Bert Hellinger selbst nicht zugegen. Seine Frau Sophie leitete das Seminar, wobei sie täglich selbst eine Einheit mit Aufstellungen gestaltete und andere Einheiten anderen Aufstellern überließ. Alles in Allem war es sehr bereichernd für uns, wozu auch die ungeheuer dichte Atmosphäre unter den etwa 500 Teilnehmern aus aller Welt beitrug. Hier glühte ein kleiner Vulkan. Und der hatte für mich eine besondere Überraschung bereit.

Am zweiten Tag gab es Aufstellungen für Unternehmen. Das Anliegen: Ein brasilianischer Unternehmer, dessen Firma Holzplatten für Möbel produziert, will das Unternehmen seinem Sohn übertragen, der aber nicht das rechte Interesse dafür zeigt. Ich meldete mich als Stell­vertreter und wurde zusammen mit vier weiteren zu dem Stellvertreter des Unternehmens hinzu gestellt. Mein Blick ging sofort vor meine Füße auf den Boden, und das Bild war: Fleisch in einer Grube, in Fetzen, keine erkennbaren Leiber. Der Zusammenhang war mir sofort klar: Für das Holz wird der Lebensraum der brasilianischen Wald-Völker vernichtet – und diese Völker selbst dazu.

Bald spürte ich, dass sich von hinten jemand auf mich legte. Ich dreht mich um und sah eine Frau, welche für mich diese Völker repräsentierte. Sie hing kraftlos an mir. Lange konnte ich sie so nicht halten, also legte ich sie auf den Boden und mich selbst daneben. Da lagen wir nun, und ich schaute in die Lichter an der Decke des Saales. Ich hatte Zeit, nachzudenken: In was für einer Rolle war ich? Ich war nicht Vertreter dieser Völker, auch kein Brasilianer (europäischer oder afrikanischer Herkunft). Es war ganz unbestimmt. Ich war einfach einer, der gesehen hat, was da im Rückenraum des Betriebes passierte. Von der übrigen Aufstellung hatte ich, während ich da lag, nichts mehr mitbekommen, und auch jetzt nur, dass sich für unseren Teil des Geschehen niemand interessierte.

Als schließlich das Ende der Aufstellung angesagt wurde, stand die vorher so kraftlose Stell­vertreterin der Wald-Menschen neben mir auf und zog mich energisch in die Senkrechte.
Ich spürte: Sie war – genau wie ich selbst – immer noch in der Rolle. Da war eine Erwartung an mich. Ich dachte nun, dass der Aufstellungsleiter noch mal Fragen würde: Was war denn da bei euch los? Aber nein, das wollte keiner wissen.

Später hatte ich eine kurze Gelegenheit, mit Sophie darüber zu sprechen, die es sich mit großem Ernst anhörte. Vielleicht, meinte sie, könnten wir es später aufgreifen. Aber erst mal blieb es dabei. Außer bei mir – mich ließ die Sache nicht los. Mit Ursula konnte ich über diese Geschichte sprechen, die mir immer wieder durch den Kopf ging. Es folgte eine sehr unruhige Nacht. Wenn ich wach lag, gingen mir Gedanken durch den Kopf, die nicht meine eigenen waren. Zum Beispiel: „Vielleicht haben die lenkenden Kräfte des Universums beschlossen, dass wir (die Völker des Waldes) von dieser Welt verschwinden, dass eine neue Epoche der Menschheit anfängt, ohne uns.“ Vor allem aber ließ mich der Gedanke nicht los: Ich habe einen Auftrag – den Auftrag zu berichten: „Leg Zeugnis ab über das, was du erfahren hast. Sprich du, denn uns sieht und hört niemand.“

Aufstellung für die Völker des Regenwaldes

Am nächsten Nachmittag leitete Sophie selbst wieder eine Einheit. Sie fragte das Publikum, wer in den bisherigen Tagen etwas Besonderes erlebt hätte. Ich meldete mich, wurde auf die Bühne geholt und berichtete ihr noch mal. Während ich erzählte, rieft sie nacheinander Stell­vertreter auf die Bühne: Einen Mann für die Bäume, eine Frau für die Menschen des Waldes, einen Mann für das Unternehmen. Und schließlich schickte sie mich selbst in die Aufstellung.

Ich fühlte mich sofort als Stellvertreter für die Völker des Waldes, und ich stellte mich zum Stellvertreter des Baumes. Meine Erinnerung ist lückenhaft, und um die ganze Aufstellung genauer zu beschreiben, müsste ich noch einmal die Aufzeichnung dieser Aufstellung sehen. Ich erinnere mich, dass ich mit dem Baum am äußersten Rand der Bühne stand. Sophie gab mir vor, einen Satz zu sprechen, in etwa: „Wir werden von dieser Welt verschwinden.“ Das sprach ich ganz ruhig aus: Ja, so war es. Dann legten der Baum und ich uns auf den Boden. Dort lagen wir eine Weile und schauten uns an. Und dann fing der Baum an, sich „aufzu­bäumen“: Er wuchs langsam wieder in die Höhe, und ich mit ihm.

Wir gingen wieder in die Mitte der Bühne. Dort saßen die junge Frau, die von Sophie als Stellvertreterin der Wald-Menschen auf die Bühne gerufen hatte, neben ihr immer noch der junge Mann, der für den Unternehmer stehen sollte. Die beiden hockten nebeneinander wie ein unglückliches Liebespaar. Zu ihr sagte ich: „Meine Tochter, du wirst eine Brasilianerin. Und so wird unser Volk überleben. Ich aber werde mit dem Wald verschwinden.“ Und dann ging der Baum mit mir zum anderen Ende der Bühne, und wieder sanken wir zu Boden.

Inzwischen gab es eine große Unruhe im Saal. Viele Leute riefen etwas, und jemand in der ersten Reihe schien mit der Faust rhythmisch auf den Bühnenboden zu schlagen, dass es nur so dröhnte. Und der Baum fing wieder an, sich zu krümmen und zu strecken. Im Rhythmus der „Trommel“ kamen aus dem Saal Rufe: „Stand up! Stand up! Stand up!“, und langsam, mühsam reckte sich der Baum wieder nach oben. Ich dachte: Bestimmt wäre alle froh und erleichtert, wenn ich jetzt wieder aufstünde. Aber das würde der Wirklichkeit nicht gerecht. Viele dieser Völker sind schon ausgelöscht, andere werden folgen. Ein Happy End, in diesem Sinn, wird es für sie nicht geben.

Nach der Aufstellung sprach mich jemand an: „Wusstest du, dass heute der internationale Tag der Ureinwohner ist?“ Nein, ich wusste nicht einmal, dass es so einen Tag gibt. Aber auf eine andere Weise war ich tatsächlich nicht völlig unvorbereitet. Im letzten Jahr hat uns Maristella, eine Freundin aus Brasilien, einmal geschrieben, dass die sozialen und politischen Zustände dort so schrecklich wären, dabei aber ganz hoffnungslos. Hoffnung für das Land und seine Menschen wäre erst möglich, wenn die sich ihrer Vergangenheit stellten, der Gewalt, die den Sklaven aus Afrika angetan wurde, aber auch den Ureinwohnern des Landes. Das klang schon überzeugend, aber richtig verstanden hatte ich das nicht.

Jetzt, nach dieser Aufstellung, ist es mir klar: Dass auch diese Völker gesehen und geachtet werden, wenigstens jetzt, wo sie verschwinden, das ist nicht nur für die Opfer wichtig. Es ist auch für die Täter wichtig, vielleicht noch mehr. Denn Täter sind nicht nur die Holzfäller, welche diese Menschen töten, um die Wälder abholzen zu können. Davon profitieren tun ja alle, die in den Möbeln aus diesem Holz wohnen.

Ein Satz aus der Rolle als Vertreter der Wald-Völker in Brasilien ging mir immer wieder durch den Kopf, aber es gab keine passende Gelegenheit ihn auszusprechen: „Bitte, nennt uns nicht Indianer.“ Dieser Begriff stammt ja aus dem historischen Irrtum der Eroberer, die Indien suchten, aber ein Land fanden, das sie später (nach einem der ihren) Amerika nannten. Es gibt auch keinen alle diese Völker umfassenden Namen. Viele, gerade die in den Wäldern Süd­amerikas, wussten oder wissen nicht mal, dass es die anderen gibt. Was sie vereint ist nur das Schicksal ihrer Auslöschung durch die Einwanderer, vor allem die aus Europa.

Die Pflanzen werden überleben, wir nicht.“

Am nächsten Tag sind Ursula und ich nach Griechenland abgereist. Hier haben wir am Strand ein Buch zu Ende gelesen: Many Lives, many Masters von Brian Weiss. Der Autor, ein amerikanischer Psychiater, berichtet von einem Fall, in dem seine Patientin in der Hypnose nicht nur traumatische Kindheitserlebnisse erinnerte, sondern auch frühere Leben, einschließ­lich der jeweilige Sterbevorgänge am Ende dieser Leben, und darüber hinaus Wahrnehmung aus der geistigen Welt nach dem Tod. Bisweilen kam noch etwas hinzu: Mitteilungen von „Meistern“ aus der geistigen Welt, die an den Arzt, Brian Weiss, selbst gerichtet waren.
In diesen Mitteilungen findet sich folgende Passage, die mich natürlich an die Aufstellungen in Bad Reichenhall erinnert:

„Die Menschen fahren fort, sich selbst zu zerstören. Es gibt keine Harmonie, keinen Plan für das, was sie tun. Sie zerstören die Natur. Am Ende werden sie sich selbst zerstören.“ – Dies war eine erschreckende Vorhersage. „Wann wird das geschehen?“, fragte ich. – „Es wird früher geschehen, als sie denken. Die Natur wird überleben. Die Pflanzen werden überleben. Aber sie selbst werden es nicht.“

Was bedeutet das für die Aufstellungsarbeit?

Am Anfang der ersten Aufstellung, als ich vor mir „in die Grube“ starrte, wartete ich schon darauf, dass der Aufstellungsleiter irgendwann fragen würde, was da sei. Es kam aber nichts. Da mein Blick auf die Toten fixiert war, ich hätte ihn auch nicht von ihnen lösen können, konnte ich die ganze übrige Aufstellung nicht genau beobachten. Aber mir wurde schon klar: Die sind mit sich selbst beschäftigt. Sie kommen überhaupt nicht auf die Idee, dorthin zu schauen, wohin ich schaute. Und ich fragte mich: Wie ist das möglich, dass hier so grauenhafte Dinge geschehen, und es interessiert keinen? Und mir wurde bewusst: Diese Toten hier spielen für jene Lebenden dort keine Rolle. Sie zählen nicht wirklich als Menschen. Also, wenn die jemand tötet, ist es auch kein Mord.

Das ist vermutlich ein gesamt-amerikanisches Phänomen. In einem Artikel über die Bevöl­kerungsentwicklung in den USA las ich: „Laut US-Zensus-Behörde werden 2020 die Hälfte der Amerikaner unter 18 Jahren Nicht-Weiße sein. Bis 2044 werden heutige Minderheiten – Afroamerikaner, Latinos und Asiaten – in allen Altersgruppen die Mehrheit bilden.“1 War da nicht noch jemand? Waren da nicht schon Menschen in diesem Land, bevor wir, die Europäer kamen? Sind sie schon so wenige, dass sie von den Eingewanderten nicht einmal mehr als Minderheit gerechnet werden?

Dass der Leiter der Aufstellung diesen Aspekt ignorierte, erscheint nur folgerichtig. Gesehen hat er natürlich, dass da etwas war. Und er hat auch gesehen, dass das mit dem Auftrag des Klienten nichts zu tun hatte. Beim dem Anliegen ging es nicht um Völkermord, sondern um die Übergabe eines Betriebes innerhalb der Familie. Unternehmensberatung, auch wenn sie mit dem Werkzeug der Aufstellung nach Hellinger arbeitet, hat nicht den Anspruch, die Welt zu retten.

Aber ist das noch „Aufstellen nach Hellinger“? Um nicht missverstanden zu werden: Dies ist kein moralischer Appell, Aufsteller sollten sich zum Anwalt der Entrechteten aufschwingen. Für unser Verständnis ist ein Aufsteller keiner Moral und letztlich auch keinem Klienten-Auftrag verpflichtet, sondern der Wahrheit, wie sie in der Aufstellung aufscheint. Im gegebe­nen Fall hat sich aber in der Aufstellung gezeigt, dass dieser Betrieb, der Holzplatten für die Möbelproduktion herstellt, mit dem Schicksal der Völker der Wälder etwas zu tun hat.

Wolfgang Deußer, der diese Aufstellung von außen beobachtet hatte, meinte auch, dass die zögerliche Haltung des Sohnes, der diesen Betrieb übernehmen sollte, genau damit zusammenhängen könnte. Und das würde wieder dazu passen, wie der junge Mann, der in der zweiten, von Sophie geleiteten Aufstellung das Unternehmen vertrat, sich zu der Vertreterin der Wald-Menschen auf den Boden hockte. Zwei Königskinder, die nicht zusammenkommen können – eben wie Kinder einer Täter- und einer Opfer-Familie. Hätten sie als Paar eine Chance? Hat das Unternehmen eine Chance, wenn die Unternehmensberatung diesen Hintergrund ausklammert?

Antworten auf den Rundbrief 11/2018

Wir haben auf unseren Reichenhall-Bericht mehrere Antworten bekommen, länger oder auch ganz kurz, zum Beispiel ein schlichtes „Danke“. Alle haben uns berührt. Wir haben sie hier zusammengefasst, um diese Rückmeldungen wiederum als Rundbrief zu teilen.

Ich danke Euch ganz herzlich für den so eindrücklichen Bericht. Was Thomas schreibt, wird seinen Platz in einem neuen Buch finden. Mit lieben Grüßen,
Regula Wyss

Ein sehr berührender Erlebnis-Bericht über die Tage bei Sophie. Danke!!
Beste Grüße
Uwe Habricht

Der Rundbrief hat mich erschüttert! Mir ist ganz kalt geworden!

Herzliche Grüße,

Dorothea Butz-Klimek

Danke für euren Rundbrief.

Da ich bei dieser Aufstellung ja selbst dabei war, erzähle ich auch etwas dazu. Nach der Aufstellung für den Familienbetrieb ging meine Aufmerksamkeit nicht zu diesen Personen, die am Boden lagen. Der Unternehmer war in gutem Einklang mit seinem Mitarbeiter. Was hinter ihnen passierte, habe ich gesehen, war aber nicht berührt davon. Wolfgang hatte gesehen, dass da Opfer waren.

Als die Aufstellung wieder aufgegriffen wurde, war ich ganz neutral, ohne Emotion. Erst als die Brasilianer anfingen zu klopfen und schreien, war ich sehr beeindruckt und auch mitgenommen als Teil von ihnen, mit voller Achtung für alles, was geschehen war. Erst später erfasste mich eine Traurigkeit. Das Grundgefühl blieb Achtung für die Brasilianer und für die Urbewohner und ihr Schicksal.

O.M.

Vielen Dank für Euren Bericht aus Bad Reichenhall, der mich nachdenklich und erdig klar, dh. auch traurig stimmte – ganz spontan  kamen mir zwei Dinge in den Sinn, ein Gedicht von Hugo von Hofmannsthal „Manche freilich“ (wahrscheinlich ist es Euch bekannt) und eine Performance bzw. zwei Fotos davon, von Regina José Galindo, einer guatemaltekischen Künstlerin, die im letzten Jahr auch auf der documenta vertreten war. Beides sende ich Euch zu. Ahoi,

Tobias von Kraft:

Manche freilich …

Manche freilich müssen drunten sterben,
Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
Andre wohnen bei dem Steuer droben,
Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.

Manche liegen immer mit schweren Gliedern
Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,
Andern sind die Stühle gerichtet
Bei den Sibyllen, den Königinnen,
Und da sitzen sie wie zu Hause,
Leichten Hauptes und leichter Hände.

Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
In die anderen Leben hinüber,
Und die leichten sind an die schweren
Wie an Luft und Erde gebunden:

Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
Kann ich nicht abtun von meinen Lidern,
Noch weghalten von der erschrockenen Seele
Stummes Niederfallen ferner Sterne.

Viele Geschicke weben neben dem meinen,
Durcheinander spielt sie alle das Dasein,
Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens
Schlanke Flamme oder schmale Leier.

Die Dokumentation der Performance Tierra von Regina José Galindo aus dem Jahr 2013 findet sich auf ihrer Webseite http://www.reginajosegalindo.com/

Danke für das Mitteilen der Aufstellung. Ich war ja letztes Jahr mit Greenpeace in Brasilien im Amazonasgebiet, im Gebiet der Mandurukus. ’Wir’ haben verhindert, dass ein riesengroßer Staudamm gebaut wurde, der das ganze Lebensgebiet dieses Volkes, die, überflutet hätte.

Die Mandurukus leben dort in absoluter Harmonie mit der Erde, den Pflanzen, den Tieren – auch wenn sie jetzt Computer gebrauchen können, wenn sie in der Stadt sind, wo sie jeden Monat hinfahren müssen, um sich registrieren zu lassen. [Bei dieser Registrierung geht es um staatliche Unterstützung.] Die indigene Bevölkerung genießt ja einen speziellen Status.

So wie es jetzt aussieht, wird die Zerstörung immer schneller werden, auch wenn die Zahl der ‘Einsichtigen’, die großenteils nach ihrer Einsicht auch leben und handeln, stetig steigt. Am Wochenende habe ich Christian Felber kennen gelernt, der die Bewegung der Gemeinwohl­ökonomie ins Leben rief, kennen gelernt. Diese Bewegung breitet sich aus, es gibt nicht nur Firmen, sogar Städte, die dementsprechend handeln. Das gibt mir dann immer wieder Hoffnung.

Gregg Braden sagt ja, dass es eine grosse Zahl von sehr alten Voraussagen gibt, oft auch bildlich dargestellt, dass es einen Scheideweg geben wird und die Menschheit die Wahl hat, welchen Weg wir einschlagen.

Christina Hurst-Prager

Lieber Thomas,

das mit den Pflanzen als Fundament unserer auf die Zukunft orientierten Entwicklung ist mir sehr nahe. Ich hatte in diesem Jahr einen Traum, in dem ich erstaunt sah dass menschliche ‚Wohnungen‘ auf den Baumkronen ganz oben standen. Sie waren ganz leicht wie aus Fallschirmseide, farbig. Sie wurden ‚Plato Haus” genannt.

Auch hatte ich gerade in Budapest eine Gaia Touch Übung* erfunden, bei der sich das Tier als Fundament unseres Körpers zur Regeneration in den Rückenraum zurückzieht und die Aufrechte des Körpers wie eine Pflanze als neues Fundament bestätigt wird. Wenn Menschen diesen Weg gehen werden, bin ich sicher, dass auch der Mensch zusammen mit den Pflanzen überleben wird.

Gerade gestern ist aus Brasilien die Übersetzung unseres Buchs Die Wahrheit aus der Zukunft gekommen, in dem ich auch drei Brasilianische “Orte der Zukunft vorstelle”.

Gleichzeitig hat der neue Präsident von Brasilien angekündigt, dass er die Rechte der Ureinwohner auf ihren Lebensraum ignorieren wird!

Herzensgruß von Marko Pogačnik

* Gaia Touch Übungen oder Körperkosmogramme sind bestimmte Bewegungsabläufe, die uns mit den geistigen Kräften der Erde und des Universums und mit den Urbildern unseres Lebens verbinden. Wenn man die Haltungen, die Marko dazu skizziert hat (siehe oben), nacheinander ausführt, entsteht ein fließendes Bewegungsbild.

Mehr Information auf Markos Webseite www.markopogacnik.com/?page_id=254

Zwei Tage,nachdem ich eure @ las, hatte ich Sprechstunde: Bei der Mutter waren zwei Verstorbene – ihre verschollen Brüder, die vor ca 40 Jahren als Goldgräber in den Amazonas gegeangen waren. Die meist illegeale Goldgräberei verseucht und verwüstet das Land der Ureinwohner. Viele von ihnen starben an Krankheiten oder wurden aus Habgier ermordet. Die anwesende Tochter studiert Jura: Ich spürte einen Impuls und sagte ihr „Da ist wohl ein Apell an dich… diese Völker zu sehen….“
Gestern kam durch die Nachrichten, dass die illegale Abholzung wieder zunimmt- tut weh.

Beatrix

1 Süddeutsche Zeitung 24.10. 2018

Bericht über das „spezielle Seminar“ vom 7.1.2017

Was war denn speziell an diesem Seminar? Vor allem das „Beiwerk“, das dieses mal in die Mitte gerückt wurde: Stille Meditation und Übungen, die uns helfen sollen, uns mit jenen Realitäten zu verbinden, die jenseits unserer Schulweisheit und jenseits unserer fünf Sinne liegen. Das waren insbesondere Übungen von Marko Pogačnik aus seinem Buch Synchrone Welten. Natürlich machten wir auch Aufstellungen. Darüber hinaus gab es einen Austausch in der Gruppe über Fragen dazu.
Mehrmals nahmen wir uns Zeit für Meditation, stilles Sitzen, in dem wir unsere Aufmerksam­keit nach innen lenkten, in die „leere Mitte“. Hier muss nichts korrigiert, nichts muss ver­bessert werden. Alles darf so sein, wie es gerade ist.
Gleich in der ersten Meditation reagierte Ursula auf einen Satz mit einem plötzlichen Magen­drücken. Wir stellten das auf: Zunächst Ursula selbst und das Magendrücken, bald danach noch jemanden ihr gegenüber. Diese Stellvertreterin schaute still, freundlich, aber auch etwas unnahbar. Und dann schaute sie auf mich, den Aufstellungsleiter. Ich stand auf, und ich fragte mich, zu was ich gerufen oder herausgefordert wäre. „Bin ich zu weit gegangen?“, fragte ich mich? „Bin ich anmaßend gewesen?“
Die Situation erinnerte mich an die Epidauros-Aufstellungen, die wir vor ein paar Jahren gemacht haben, wo Teilnehmer als Pilger durch die Tempel des antiken Heiligtums gingen. Sobald man in diesen Aufstellungen zum Artemis-Tempel kam, fand man – egal, wer gerade als Stellvertreter für die Göttin stand – eine strenge Meisterin. Hier lernst du eine demütige Haltung, oder du kannst gleich wieder gehen.
Der Meister (oder Meisterin) in dieser Aufstellung jetzt war deutlich milder, weniger streng, aber in der Sache genauso klar. Ich musste auf die Knie hinunter und den Kopf neigen. Dann sah ich, dass Ursula sich vor diese Wesenheit auf den Boden legte. Nach einer kleinen Weile war es dann gut. Wir standen auf und beschlossen die Aufstellung. Später meinte Ursula, diese Stellvertreterin habe für den Tod gestanden. Auf mich wirkte es nicht wie der Tod, aber ich weiß auch nicht, was. Jedenfalls „etwas Höheres“.
Wir blieben dabei, mit solchen „höheren Instanzen“ zu arbeiten. In der folgenden Aufstellung ging es um eine Teilnehmerin und ihre Mutter. Wir ließen sie in eigener Person stehen, und gegenüber stellten wir jemanden für „Die Essenz der Mutter“ hin, also nicht die Person dieser bestimmten Mutter, sondern das Mutter-Sein dieser Frau (und aller anderen Mütter). Die Frau und Die Mutter schauten sich einfach an. Nach einer Weile ließ ich die Mutter sagen: „Ich bin da.“ Das hatte eine schon mal eine gute Wirkung. Dann ließ ich die Frau antworten: „Ich bin auch da.“ Auch das hatte eine gute Wirkung.
Nach dieser Aufstellung kamen wir auf dieses „auch“ zu sprechen. Es wirke, sagte jemand, als sei die Person, die „ich bin auch da“ sagt, etwas Geringeres. Ja, das stimmt. Ich erzählte dazu, dass Bert Hellinger von der Mutter als einer Gottesoffenbarung gesprochen hat. Wenn wir auf Die Mutter schauen, ist es, wie wenn wir auf „das ferne Licht“ schauen. Der Satz „Ich bin da“ ist die Übersetzung des jüdischen Gottes-Namens.
Außerdem ist es der größte Trost für ein verzweifeltes Kind, wenn die Mutter sagt: „Ich bin da.“ Dann weiß das Kind, dass es auch da sein darf. Und natürlich, im Vergleich zu dem, das sagt „Ich bin da“, ist das Kind kleiner. Es ist kleiner als die Mutter, und es ist kleiner als Gott. Wir sind aus Gott und inso­fern sind wir auch Gott. Doch alles, was ist, kann nur kleiner sein als das, woraus wir sind. Wenn wir das anerkennen, sind wir an unserem richtigen Platz. Und dort sind wir dann groß.
Ungefähr an dieser Stelle fügten wir eine Übung von Marko ein, die Übung 12 aus dem erwähnten Buch. Ich nenne sie „Der Bienenschwarm“. Es ist keine Übung mit körperlichen Bewegungen oder Gesten, sondern sie läuft in der geistig Vorstellung ab. Die Kurzfassung:
 
„Stell dir vor, alle Zellen deines Körpers wären frei, als selbständige Einheiten im Raum deiner Aura zu schwingen. Dein Körper fühlt sich nun an wie Schwarm freudig zitternder Bienen.
Dabei strahlt deine geistig-seelische Mitte wie eine innere Sonne mit der Kraft der Liebe.
Sie hält damit die Gesamtheit deines mehrdimensionalen Körpers zusammen.
Spüre die kreative Spannung zwischen den freischwebenden Einheiten deines Körpers und deiner alles zusammenhaltenden Mitte.
Dieses Gefühl kannst du nun auf die ganze Erde übertragen.
 
Diese Übung kann jeder lesen und dann für sich durchführen, aber es wirkt doch anders,
wenn man sich entspannt hinsetzt, die Augen schließt und sich von einem Sprecher durch die Übung hindurch leiten lässt.
Danach ließ eine Frau ihre Beziehung zur Musik aufstellen. Die Musik war etwas sehr Großes, stand ruhig, freudig und offen der Frau gegenüber. Und dann sagte der Vertreter der Musik zu der Frau: „Ich bin da.“ Und die Frau antwortete: „Ich bin auch da.“ Da hatten wir dieses Thema wieder, wie bestellt als Vertiefung zum besseren Verständnis. Auch die Musik ist eine göttliche Offenbarung. Wenn wir Anteil haben an ihr, werden wir mit Seligkeit beschenkt, so wie wenn wir in der Liebe zur Mutter aufgehoben sind.
Eine Teilnehmerin merkte an, dass wir mit dem „ich auch“ Verantwortung übernehmen – jeder seinen Teil der Verantwortung am großen Ganzen.
Und dann gab es noch eine ganz normale Familienaufstellung – jedenfalls vom Anliegen her. Eine Frau wollte ihr Verhältnis zu ihrem Vater aufstellen. Ich beschreibe den Ablauf hier nicht im Detail. Nur so viel: Nach einer Wendung des Vaters zusammen mit seinem Vater
in Richtung auf eine ferne Vergangenheit waren wir in der Geschichte von Abraham, der sich anschickte, seinen Sohn Isaak zu schlachten.
Als mir das klar wurde, fiel mir eine Geschichte von Bert Hellinger zu diesem Thema ein, und ich ließ den Vater in die Richtung, in die er und sein Sohn schauten, sagen: „Ich tu es nicht!“ Das war erlösend. Vater und Sohn drehten sich danach wieder um, und der Sohn schaute liebe­voll zu seiner Tochter hin, von der er anfangs nichts wissen wollte.
Obwohl wir nur vier Aufstellung gemacht hatten, waren wir hinterher ebenso geschafft wie bereichert. Wir werden demnächst einen zweiten Anlauf mit solch einem Seminar machen, vielleicht im Mai.


Rundbrief Familienstellen 08 2016

Im Dezember letzten Jahres befasste sich die Zeitschrift Praxis der Systemaufstellung mit der Person und Bedeutung Bert Hellingers, anlässlich seines 90sten Geburtstages. Ich habe dieses Heft gründlich gelesen. Dass die Mehrzahl der Beiträge sich mehr oder weniger heftig von Hellinger absetzte – nichts Neues. Allerdings war in dieser Kritik auch substantiell nichts Neues. Sie ist, je nach Autor, spätestens im Jahr 2003 stehen geblieben. Was haben diese Kritiker seither von Bert zur Kenntnis genommen?

Ich habe einen Leserbrief geschrieben, der in der Ausgabe von Juni 2016 gedruckt wurde, in dem ich mich versuche, den Kern von Hellingers Arbeit zu umreißen und zu klären, was eigentlich die beiden Linien der Aufstellungsarbeit, die systemische und die geistige, trennt und was sie immer noch verbindet. Der ganze Text wird demnächst auf unserer Internet-Seite zu finden sein. Hier ist die konzentrierte Kurzfassung:

Psychotherapie oder Mystagogie

Seit über zehn Jahren grenzt Hellinger sein Verständnis der Aufstellungs­arbeit entschieden von Psychotherapie ab. Das hat mehrere Gründe, aber letztlich ging und geht es aber um die Frage: Was ist die Aufstellungs­arbeit? Zugespitzt: Ist es Psycho­therapie oder „natürliche Mystik“, „angewandte Philosophie“? Auf unserem Weg mit Bert Hellinger wurde uns im Lauf der Jahre immer deutlicher bewusst, dass das Stellvertreter-Phänomen ein mystisches Erkennen ist, ein Portal, durch das wir mit der geistigen Welt in Verbindung treten – zum Beispiel mit der Sphäre der Ahnen. Das ist heilsam, aber es ist nicht Psychotherapie.

Bert hat in den letzten Jahren mehrfach angedeutet, für ihn sei das Familien­stellen vorbei. Was ich aber nicht hindert, weiter Aufstellungen anzuleiten. Für ihn ist das Aufstellen nur der Weg, der zu einer mystischen Erkenntnis führt. Er selbst braucht aber längst keine Aufstellungen mehr, um sich diesem „dunklen Zusammenhang“ auszusetzen und eine Einsicht zu bekommen. Für ihn ist das ein innerlicher Vorgang.

Die meisten Menschen allerdings sind noch nicht so weit. Auch für uns selbst ist die Aufstel­lungs­arbeit immer noch ein mystischer Schulungsweg. Und zwar einer, der jedem offen steht! Jeder kann selbst erfahren, dass er nur als Stellvertreter in „den magischen Kreis“ zu treten braucht, den jede Aufstellung darstellt. Als Stellvertreter in einer Aufstellung überschreiten wir die Grenzen unserer fünf Sinne. Deshalb ist jede Aufstellung, unabhängig von ihrem jeweiligen Anlass, eine Offenbarung, in der wir uns als mehrdimensionale Wesen erleben.

Wenn Bert also kein Therapeut ist – was ist er dann? Für mich liegt ein Begriff nahe, der unserer Kultur eher fremd geworden ist, nämlich der eines Mystagogen. Das ist ein Experte (also ein Erfah­rener), der andere auf einem mystischen Erkenntnisweg führt.

Der Begriff des Therapeuten ist hier in einem landläufigen Sinn verwendet. In der ursprüng­lichen Wortbedeutung jedoch meint Therapie den „Dienst am Göttlichen“. Er umfasst also auch die Schulung der mystischen Erkenntnis. Da ist kein Widerspruch.

Konsequent gedacht gilt die Bezeichnung Mystagoge natürlich nicht bloß für Bert persönlich, sondern für jeden Aufsteller. Denn jeder Aufsteller vermittelt anderen Menschen die Erfahrung, dass auch sie (in der Stellvertreter-Rolle) auf einer geistigen Ebene etwas klar wahrzunehmen vermögen, was sich im Alltag unseren Sinnen entzieht.

Thomas Gehrmann

Rundbrief Familienstellen 07 2016

Die Zurückhaltung und der geheiligte Raum des Anderen

In der Anfangszeit gehörte zum Familienstellen ein aktives Erkunden: Der Aufstellungsleiter erkundete das Anliegen und die genauen Umstände. Dann bestimmte er Stellvertreter, die auf­gestellt wurden, er befragte sie, verändert ihre Positionen oder ließ sie bestimmte Sätze sagen oder Gesten ausführen. So lange, bis es für alle gut war. Das war dann „die gute Lösung“.

Etwa seit dem Jahr 2000 hat Hellinger seine Arbeit dahin verändert – und wir folgen ihm darin – dass er die Stellvertreter ihren innerlich wahrgenommenen Impulsen überließ, auch ohne etwas zu fragen oder einzugreifen. Die Tendenz geht bei der neuen Arbeitsweise also vom Tun zum Nicht-Tun. Diese Haltung des Anleiters verlangt äußerste Zurückhaltung. Dieses Nicht-Tun hat eine tiefe Wirkung, bringt aber oft nicht die „gute Lösung“, auf die das Familienstellen früher ausgerichtet war.

So zum Beispiel in einer Aufstellung, die Bert Hellinger vor fünf Jahren anleitete. Da hatte die Falleinbringerin gemeint, auf ihrer Familie laste ein Fluch; ihre Mutter sei von ihrer Oma mit einem Fluch belegt worden. Die Aufstellung zeigt jedoch, dass die Mutter sich trennend zwischen ihre Tochter (die Falleinbringern) und ihre Mutter (die Oma der Klientin) stellt.
Als Hellinger Stellvertreter für die Tochter der Klientin und deren Sohn hinzunahm, zeigte sich das gleiche Bild: Auch die Tochter stellt sich trennend zwischen ihre Mutter und ihren Enkel.

An diesem Punkt nun brach Hellinger die Aufstellung ab: „Ist es in unserer Hand, hier einzu­greifen? Was muss sich ändern bei ihr, ihrer Mutter, bei ihrer Tochter? Können wir das ändern in einer Aufstellung, als läge es in unserer Hand? Aber nach dieser Aufstellung kann nichts bleiben, wie es war.“ Wenn aber nichts mehr so bleiben kann, dann ist das Nötige getan.

Was dem seltsamen Bild, das die Aufstellung zeigte, ursprünglich zu Grunde lag, wurde nicht sichtbar. Müssen wir es wissen? Das Bild der „bösen Oma“ war jedenfalls haltlos gewor­den. Wie geht es nun weiter? Auf jeden Fall anders als bisher. Wollte der Aufsteller dieser neuen Bewegung auch noch die „richtige“ Richtung geben wollte, würde er sich überheben, letztlich „Gottes spielen“.

Bert Hellinger: „Jeder lebt in seinem eigenen Raum. Dieser Raum hat eine Grenze. Und wie gehen wir auf eine angemessene Weise miteinander um? Wir achten diese Grenze. Aber bei den helfende Berufen ist es Gang und Gäbe, dass wir versuchen, in diesen Raum des anderen einzu­dringen. Zum Beispiel mit unserer Neugierde oder Sorge.

Hier, bei dieser Arbeit, demonstrieren wir die äußerste Zurückhaltung, ohne einzudringen. Wir stellen lediglich Stellvertreter auf, manchmal ohne zu benennen, wofür sie stehen. Und weil es da keine Vorgaben gibt, entsteht eine Bewegung von woanders her. Und ohne dass etwas gesagt werden muss oder gesagt werden darf, entsteht eine Bewegung hin auf eine Lösung.

Manche von euch haben sich sicherlich gewünscht, dass es hier eine Lösung gegeben hätte, im üblichen Sinne. Und wir konnten die nicht sehen. Aber sie kann nicht mehr weitermachen wie zuvor, auch wenn ein langer Weg vor ihr liegt.“

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Rundbrief Familienstellen 05 2016

Pfingsten 2016

Kurz vor unserem letzen Aufstellungstag telefonierte ich mit unserer Kollegin Agape in Griechenland. Dabei erwähnte ich eine merkwürdige Jesus-Aufstellung, die Ursula und ich im März miterlebt hatten. Agape war verwundert. Sie hat durchaus eine Beziehung zu Christus, doch sie meinte, sie hätte nie Christus aufgestellt. Ich erzählte ihr, dass wir es vor Jahren in einer Aufstellung mit so schwierigen Kräften zu tun hatten, dass wir deutlich an unsere Grenzen kamen. Wir hätten die Aufstellung abbrechen müssen. Stattdessen nahmen wir einen Stellver­treter für Christus herein. Sofort änderte sich die ganze Atmosphäre, und die verhärteten Fronten lösten sich auf.

Dieses Telefongespräch hat wohl den Boden bereitet für unseren Aufstellungskurs drei Tage danach. Da gab es gleich drei Aufstellungen, die uns über das im engeren Sinn Menschliche hinaus in andere Bereiche führten. Eine davon war wieder eine Aufstellung, in der wir einen Stellvertreter für Christus hinzu nahmen:


Eine Frau leidet an Venenproblemen in den Beinen. Eine Stellvertreterin für sie breitet die Arme aus, als wollte sie jemand oder etwas daran hindern, aus ihrem Rückenraum nach vorne zu kommen. Eine zweite Person steht auf, beugt sich hinab und krabbelt auf allen Vieren unter den ausgebreiteten Armen der ersten Stellvertreterin hindurch nach vorne. Die äußert, sie würde sich der zweiten am liebsten schwer auf den Rücken setzen.

Wer da spricht, ist offensichtlich nicht die Falleinbringerin, nicht jetzt in diesem Leben. Also nehmen wir eine dritte Stellvertreterin als „den schweren Reiter“. Die versucht sich tatsächlich auf die zweite zu setzen – wir belassen es bei der angedeuteten Geste. Die Zweite fletscht die Zähne und wendet sich gegen die Dritte. Sie sagt dazu: „Ich habe ihr ins Bein gebissen. Ich spüre das Fleisch zwischen meinen Zähnen.“ Auf die Frage, ob sie ein Tier sei oder ein Mensch, antwortete sie: „Ich weiß es nicht.“

Das ist bedeutsam, natürlich, aber was es bedeutet, das wissen wir nicht. Sollten wir versuchen, es zu ergründen? Statt dessen nehmen wir einen weiteren Stellvertreter für Christus herein, der sich mit segnend ausgebreiteten Händen vor die Gruppe stellt. Alle Beteiligten kommen sofort in Frieden.

Die Beschreibung der Aufstellung erfolgt hier mit ausdrücklichem Einverständnis der Falleinbringerin

Natürlich werfen Aufstellungen mit Christus grundsätzliche Fragen auf. Fragen, die zu spannen­den theologischen Debatten führen könnten. Für die Aufstellungsarbeit jedoch genügt, was uns die Aufstellung selbst zeigt. Mehr müssen wir nicht wissen und nicht verstehen.

Der Christus, der sich uns in Aufstellungen gezeigt hat, verkörpert, was Hellinger als „Liebe des Geistes“ beschreibt: Eine wohlwollende Zugewandtheit, Liebe ohne Absicht, ohne Bedingung, ohne Urteil. Zugänglich für jeden, der sich an ihn wendet – auch per Aufstellung. Natürlich verfügen wir nicht über ihn. Das ist kein „therapeutisches Werkzeug“. Es ist eher wie ein Gebet, eine Bitte um Hilfe. Aber das sollte eigentlich für alles gelten, was wir aufstellen.

Rundbrief Familienstellen 03 2016

Die Welt kennen lernen mit Bert Hellinger! Diesmal fuhren Ursula und ich nach Charleroi in Belgien zu einem Seminar von Bert.

Das Spektakulärste dabei, zumindest vordergründig, war sicher sein Vortrag, dass die Mensch­heit von Außerirdischen zu dem Zweck erschaffen wurde, um als Sklaven für diese Außer­irdischen in Bergwerken nach Gold zu graben. Zwar seien jene Außerirdischen nicht mehr auf der Erde zugegen, die Menschheit jedoch lebe immer noch im Sklavengeist und sei in ihrem Tun und Denken auf das Gold (beziehungsweise Geld) ausgerichtet. Diesen Vortrag wiederholte er in den drei Tagen mehrfach und mit großem Ernst.

Wollte ich die Geschichte von der Entstehung der Menschheit als historisches Faktum unter­suchen, fielen mir sofort vielfältige Einwände ein. Zum Beispiel: Wenn diese Außerirdischen in der Lage waren, ein so kompliziertes, aber auch empfindliches Wesen wie den Menschen zu erschaffen, der dann hunderttausende Jahre Evolution brauchte, bis er in großen Tiefen Erz abbauen und verhütten konnte – warum haben sie nicht gleich ein paar robuste Maschinen gebaut, die diese Aufgabe sofort und viel besser erledigen könnten?

Doch ich höre diese Geschichte wie ein Gleichnis, das unsere geistige Verfassung beschreibt, und wie einen Mythos, der erklärt, wie es dazu kam. In der Tat sah ich in den darauf folgenden Aufstellungen immer wieder die Gier, das Haben-Wollen. Besonders in den Unternehmens-Aufstellungen des zweiten Tages, aber auch an Stellen, wo ich es vorher nicht vermutet hätte.

Einmal war ich selbst in einer Stellvertreter­Rolle, die nicht benannt war. Ich stand für etwas, das für die Entwicklung des betreffenden Unternehmens von entscheidender Wichtigkeit war. Der Unternehmer (in eigener Person) stand mir gegenüber. Ich war ihm wohl gesonnen, lächelte und ging einen Schritt auf ihn zu. Da kam er auf mich zu, aber ganz ohne Maß. Ich musste ihn mir vom Leibe halten, erst zart angedeutet, dann ganz energisch. Der Mann blieb stehen, und ich ging wieder einen kleinen Schritt auf ihn zu. Wieder begann er, mir auf die Pelle zu rücken.
Mir war, als wollte er mich ergreifen und sich gewissermaßen in die Tasche stecken. Er schaute mich auch nicht an. Schließlich brachte Bert die Mutter des Mannes ins Spiel. Die ging gleich zu Boden, der Unternehmer kauerte sich zu ihr und ergab sich seinem Schmerz. Und ich stand da und wartete auf irgendjemanden, irgendwann käme und mir mit etwas anzufangen wüsste.

Danach ging es ähnlich weiter: Ein Management- und Beratungsunternehmen näherte sich einem anderen Unternehmen, das es beraten wollte, und reichte ihm die Hände. Aber dieses Unter­nehmen verschränkte die Arme und zog sich zurück. Es war deutlich, dass die Berater etwas wollten, aber nichts zu geben hatten. Sie wollten das andere Unternehmen in die Tasche stecken! Das hat mich sensibel für die Geste gemacht, jemandem die Hände zu reichen oder zu umarmen. Welche Absicht steckt dahinter? Hier sah ich immer wieder: den Anderen (oder das Andere) umgarnen, einkassieren, in die Tasche stecken.

Diesen Aufstellungen für Unternehmen war eine Arbeit Hellingers vorangegangen, bei der ein junger Mann als sein Anliegen benannte, er wolle „endlich frei sein!“ Ich habe keine Ahnung, von wem oder was er sich eingeengt gefühlt haben mag, aber ich ahnte schon, was Hellinger gleich darauf antworten würde. Er sagte zu ihm: „Mach die Augen zu. Sag: ‚Ich diene!’“ Danach konnte man hören, wie Hellinger ins Schwarze getroffen hatte. Der Mann neben ihm, immer noch mit geschlossenen Augen, wand sich auf dem Stuhl und rang nach Luft. Nach einer Weile kam er zur Ruhe und war sichtlich verändert.

Dieses „Ich diene“ verändert stets die geistige Dimension, in der wir uns bewegen. Auch in der Auf­stellung für den Unternehmer, in der ich Stellvertreter war, hatte ich das Gefühl: Ich stehe für den Geist eines Unternehmens, das dient – zunächst mal: Den Menschen dient. Aber es kann auch mehr als das gemeint sein.

Zur Erklärung gehe ich noch einen Schritt zurück an den Abend des ersten Tages. Da hatte Hellinger jemanden für Jesus aufgestellt und eine Frau ihm gegenüber. Sie zitterte am ganzen Leib. Währenddessen stand Jesus ihr gegenüber, die Hände offen zu ihr hin gewandt und mit freundlichem Lächeln. Er war wie eine Verkörperung jener Haltung, die Hellinger früher schon als „Liebe des Geistes“ bezeichnet hat: Freundlich zugewandt, ohne etwas zu wollen, auch ohne etwas ändern zu wollen.

Natürlich stellt sich da auch die Frage, wem oder was wir mit unserer Aufstellungsarbeit dienen. Auf der Ebene, die sich in dieser Jesus-Aufstellung andeutete, sind unsere üblichen Wünsche oder Beschwerden klein. „Ich will frei sein“ – wie lächerlich! Vergleichsweise ist das doch ein ganz enger Horizont, wie Spielerei. Und so gab es am zweiten Tag des Seminars eine ganze Serie von Nicht-Aufstellungen. Jemand kam zu Bert auf die Bühne, rang die Hände und weinte. Bert: „Das ist nur Theater. Setz dich wieder.“

Und so ging es in einem fort, vielleicht zehn Leute hintereinander. Fast alle schickte er gleich wieder fort: „Das ist nur Spielerei.“ Zwei mal machte er dabei so etwas wie eine Aufstellung:
Er ließ eine Frau, die sehr bedrückt und verweint aussah, sich auf der Bühne hinstellen und nach vorne schauen. Dann sagte er: „Geh jetzt drei entscheidende Schritte nach vorn… Noch zwei Schritte.“ Das war’s. Für mich hieß das, ins Deutsche übersetzt: „Hör auf zu jammern. Es ist, wie es ist. Schau auf das Wesentliche und geh weiter.“ Danach schickte er die Frau wieder auf ihren Platz zurück. Sie sah immer noch jammervoll aus, aber, so war mein Eindruck, sie ging aufrechter, mit mehr Würde.

Solch eine Arbeit hatte ich noch nie erlebt. Es dauerte vielleicht fünf Minuten. Ein merkwürdiges kleines Dingelchen, und für mich, neben der Jesus-Aufstellung, das Eindrucksvollste dieser drei Tage mit Bert Hellinger in Charleroi.

Die groß angekündigte „Aufstellung ganz ohne Worte“ war nicht wirklich neu für uns. Was uns besonders vorkam, war die Entschiedenheit und Radikalität, mit der Bert arbeitete. Er ist jetzt über 90 und hat keine Zeit für die üblichen Dramen. Doch es ist nicht nur eine Frage von Hellingers persönlichem Alter. Diese radikale Vorgehensweise fügt sich zu dem, was wir vor drei Wochen im Seminar von Marko Pogačnik gehört hatten:

Dass sich die Erde bereits seit einigen Jahren (von den meisten Menschen unbemerkt) in einem grund­legenden Übergang befindet vom bestimmenden Element Erde (das Mineralische, auch Metallische) zum Element Luft, zum Geistigen. Und das Gaia, die Mutter Erde, das Irdische nur noch mit einem Minimum an Lebensenergie versorgt, während die meiste Energie in den Prozess dieser Umstellung geht. Es ist nötig, dass wir uns mehr und mehr darauf einstellen, unseren Horizont weiter fassen und, wie Bert seit Jahren predigt, geistig „auf eine andere Ebene gehen“. Einmal und immer wieder.

Was heißt das praktisch für unsere Aufstellungs-Seminare? Wenig. Ich glaube, wir sind sowieso auf diesem Weg.

Herzliche Grüße & bis bald,

Thomas

Rundbrief Familienstellen 02 2016

Mitte der 90er Jahre beschrieb Bert Hellinger in seinem Buch Die Mitte fühlt sich leicht an seine Einsichten über das Gewissen. Es sei, schrieb er, nur ein instinktives Gespür dafür, was wir tun und lassen müssen, um uns die Zugehörigkeit zu unserer Gruppe, in erster Linie zu unserer Familie, zu erhalten. Das schlechte Gewissen teilt uns mit, wenn wir vom Pfad der Tugend abweichen. Aber wir müssen hinzu fügen: je nachdem, was in unserer Familie als Tugend gilt.

Das Gewissen lässt uns zwischen gut und böse unterscheiden, zwischen richtig und falsch, nur folgen verschiedene Gruppen auch unterschiedlichen Werten, manchmal auch gegensätzlichen Werten. Wenn uns das Gewissen also zwischen gut und böse unterscheiden lässt, unterscheiden wir zwangsläufig auch „gute“ und „böse“ Menschen. Natürlich sind wir die richtigen, die anderen sind die falschen. Doch leider denken die anderen umgekehrt das gleiche über sich und über uns. Der Krieg kann beginnen – mit gutem Gewissen auf beiden Seiten!

Seit ich das begriffen habe, bin ich immer wieder erschüttert, wenn ich lese – zum Beispiel gerade in einer Biographie über Dietrich Bonhoeffer – wie das Gewissen glorifiziert wird:
Als Stimme Gottes oder, bei Leuten, in deren Glaubenssystem kein Gott vorgesehen ist, gleich an dessen Stelle. Ach, würden nur alle Menschen ihrem Gewissen folgen, dann herrschten Friede und Eintracht auf der Welt. Unsinn! Das Gegenteil ist der Fall: Wir leben in einer Welt voll Gewalt, Krieg und Terror, gerade weil alle ihrem Gewissen folgen.

Hellingers Einsichten in das Gewissen sind umwerfend. Das verstand ich sofort, als ich das damals las. Was ich nicht verstand war, was das mit dem Familienstellen zu tun hat. Die Lösung dieser Frage hat Hellinger im Lauf der Jahre nachgeliefert. Das ging damit einher, dass er das Aufstellen aus dem Rahmen von Familientherapie, in dem es bekannt geworden ist, heraus löste und das „Gehen mit dem Geist“ entwickelte.

Wer mit dem Thema „Gewissen“ schon vertraut ist, der weiß, dass Hellinger neben dem persönlichen Gewissen, das jedem als gutes oder schlechtes Gewissen vertraut ist, auch ein „Gruppen­gewissen“ und ein „geistiges Gewissen“ beschrieben hat. Das macht die Sache etwas komplizierter, und ich überspringe das hier.

Wir beginnen das Aufstellen aus einer veränderten Grund­haltung heraus. Im alten, systemischen Familienstellen verband sich der Aufstellungs­leiter innerlich mit den Eltern des Falleinbringers oder mit einer ausgeschlossenen Person aus dem Familiensystem. Das hat schon eine mächtige Wirkung. Es öffnet für die Aufstellung ein geistiges Feld, in dem dann die Stellvertreter von einer anderen Kraft ergriffen und bewegt werden. Diese Bewegungen nennt Hellinger heute „Bewegungen des Gewissens“.

Die Bewegungen des Gewissens können zwar eine Unordnung reparieren, aber sie führen nicht weiter. Wie der berühmte Faden der Ariadne helfen sie uns aus dem verwirrenden Labyrinth wieder hinaus – aber immer nur dahin zurück, von wo aus wir gestartet sind. (Näheres dazu von Bert Hellinger steht in unserem Buch Gehen mit dem Geist auf den Seiten 53 und 54.) Durch das Gewissen gibt es keinen Fortschritt, keine Veränderung. Das Gewissen ist eine bewahrende Kraft und keine, die neue Horizonte eröffnet.

Wenn man das versteht, schockiert es nicht mehr so, was Bert Hellinger einmal sagte: „Wer bringt die Welt voran? Die Guten oder die Bösen?“ Und er antwortete selbst: „Es sind die Bösen“. Es sind jene Menschen, die sich auch über das Gewissen hinweg setzen. Oder anders herum formuliert: „Wer immer unschuldig bleiben will, der bleibt immer ein Kind.“

Wenn wir eine Aufstellung mit den Bewegungen des Geistes beginnen, machen wir uns innerlich leer, frei von Absichten, auch von „guten“ Absichten. Wir bleiben ruhig in unserer Mitte (hier erklärt sich endlich auch der Buch-Titel Die Mitte fühlt sich leicht an). Wir bleiben frei auch von der Absicht, etwas für die Person bewirken zu wollen, für die wir etwas aufstellen. Wir öffnen „nur“ ein Feld, in dem wir den nächsten fälligen Schritt erkennen. Einen Schritt, der möglicher­weise in etwas ganz Neues, Unbekanntes hinein führt.

Man könnte vielleicht sagen: Geistige Aufstellungen zeigen uns, was Gott mit uns vor hat. Doch das ist nicht mehr der Gott unserer Gruppe, nicht der Gott unserer Religion, falls wir einer an­hängen. Es ist nicht der Gott, der in unserem Gewissen zu uns spricht. Es ist eine Kraft, über die wir nichts zu sagen wissen, als dass sie alles ins Dasein bringt und bewegt, was ist, und dass sie allem, was ist, gleicher­maßen mit Wohlwollen zugewandt ist.

Wenn nun jemand ein Anliegen hat, das ihn bedrückt und für das er eine Lösung sucht, zum Beispiel mit einer Aufstellung, dann will er diesen ganzen Hintergrund, was das Aufstellen mit dem Gewissen zu tun hat, vielleicht gar nicht wissen. Wer verschiedene Aufsteller kennen gelernt hat und vergleichen kann, wird sicher Unterschiede bemerken. Unterschiede, die nicht nur mit dem persönlichen Temperament des Aufstellers zu tun haben, sondern auch mit einer unterschied­lichen Auffassung vom Aufstellen, vor allem: dem eher therapeutischen Familien­stellen einerseits oder dem eher mystisch-geheimnisvollen geistigen Aufstellen andererseits.

All das muss den, der einfach sein Anliegen aufstellen lassen möchte, nicht weiter interessieren. Er nimmt einfach das Angebot an, das ihm am sympathischsten ist, warum auch immer. Es muss ihn nicht kümmern, solange es ihm allein um sein Anliegen, um seine „Probleme“ und deren Lösung geht. Andere hingegen inter­essiert es doch, wo uns das geistige Aufstellen eigentlich hin führt. Ende 2015 hörte ich einen Vortrag von Hellinger über das Gewissen, ein Thema, in dem ich mich, wie ich meinte, gut auskenne. Etwas in diesem Vortrag verwirrte mich, so dass ich ihm einen Brief schrieb und fragte. Er antwortete:

Das Gewissen lässt uns keine Ruhe. Was immer wir tun, eine Kraft sagt uns, was wir tun müssen, um sicher zu sein, dazuzugehören. Wir müssen manchmal auch etwas tun, das uns über das Gewissen hinausführt. Zum Beispiel, wenn wir uns von einem Glauben lösen und mit ihm von unserer Religion. Dies gelingt uns nur auf der einen Seite mit einem schlechten Gewissen und auf der anderen Seite durch den Schritt in eine andere Dimension. Diese Bewegung ver­langt, dass wir uns jenseits von unserem bisherigen Gewissen in eine andere Ebene bewegen. Diese verlangt von uns das Letzte, den Weg in eine unabhängige Freiheit.“

Damit beschreibt Hellinger gewissermaßen das „Erziehungsziel“ des geistigen Aufstellens.
Es schickt uns auf einen Weg über das Gewissen hinaus, in eine (vom Gewissen) unabhängige Freiheit. Dieser Weg fordert eine geistige Disziplin von jedem, der sich auf ihn einlässt.
Die anfängliche Frage: „Warum geht es mir so, wie es mir geht? Wo hat jemand einen Fehler gemacht? Wie kann dieser Fehler korrigiert werden, damit alles wieder gut wird?“ verwandelt sich dann in die Frage: „Welcher Entwicklungsschritt ist von mir gefordert?“

Es sind die ewigen Fragen: Wo kommen wir her? Warum sind wir hier? Wo gehen wir hin? Diese Fragen werden hier verbindlicher. Wir beginnen mit einem mehr oder weniger handfesten Anliegen: einer Krankheit, einem Beziehungsproblem, einem lästigen Verhaltensmuster. Und wir landen unversehens auf einer anderen Ebene, die, wie Hellinger sagt, das Letzte von uns verlangt.

Dieser Rundbrief ist mal wieder „schwere Kost“, aber erstens auch wieder leicht, am Ende jedenfalls, und zweitens ist es nur fair, wenn wir unseren Teilnehmern sagen, auf was sie sich hier eigent­lich einlassen. Wie weit jeder mitgehen mag und kann, liegt dann wieder bei ihm (oder ihr) selbst.

Liebe Grüße,           Thomas und Ursula

Liebe Freundin oder Freund des Familienstellens.
Hier ist eine Vorschau auf unsere Kurse im nächsten Jahr:
Aufstellungstage in Kassel sind im ersten Quartal 2016:
Sonntag, 10. Januar
Samstag, 20. Februar
Außerdem gibt es im Februar ein Wochenende mit Aufstellungen im Kloster Gerode (Eichsfeld) von Freitag, 5.2. bis Sonntag, 7.2.
Ebenfalls im Februar gibt es ein Wochenende (26.-28.) mit Marko Pogačnik in Bad Meinberg (hinter Paderborn). Für dieses Seminar, an dem Ursula und ich selbst teilnehmen werden, hängen wir hier eine ausführliche Information an.
Im Mai (5.-8.) werden wir wieder ein internationales Aufstellungsseminar in Griechenland machen, zusammen mit unseren griechischen Kollegen Konstantinos Tokmakidis und Agape Alexomanolaki. Es wird diesmal vier Tage dauern, wobei wiederum zwei Tage von Marko Pogačnik mit seiner Arbeit gestaltet werden und zwei mit Aufstellungen. Wer interessiert ist, kann bei uns Näheres erfahren.
Von unserem Griechenland-Seminar im Mai 2015 gibt es einen Bericht (14 Seiten als PDF-Datei), den wir auf Anfrage gerne verschicken.
Übrigens: Vorige Woche hat Bert Hellinger seinen 90sten Geburtstag gefeiert.
Liebe Grüße,
Thomas und Ursula

Rundbrief 02.15

Liebe Freundinnen & Freunde des Familienstellens
Hier ist die gewohnte Erinnerung an unseren nächsten Aufstellungstag, Samstag 7. Februar.
Etwas vorausgeschaut: am 14. Mai beteiligen Ursula & ich uns mit einem Workshop an einer Aufstellungs-Veranstaltung in Frankfurt. Das ist ein Donnerstag und Feiertag, Christi Himmelfahrt. Von dort werden wir weiter jetten, um uns an einem internationalen Aufstellungs-Seminar in Nordgriechenland zu beteiligen (15.-17. Mai). Über beide Veranstaltungen verschicken wir in Kürze ausführlichere Informationen.

Beim Familienstellen ist es oft wichtig, dass die Stellvertreter die Augen offen halten, damit sie in Kontakt mit der Realität bleiben, wie sie sich in der Aufstellung gerade zeigt. Oft ist es aber auch wichtig, dass zwei Stellvertreter miteinander in Augenkontakt gehen und bleiben. Nur dann bleiben sie in miteinander im Kontakt und in Beziehung. Was es mit der Magie des In­-die-Augen-Schauens, aber auch des Sich-in-die-Augen-schauen-Lassens auf sich hat, macht der unten stehende Artikel von Wolfgang Held wunderbar deutlich.

Das Organ der Freundschaft

Eigentlich gilt der Sehsinn den Farben und Formen, den Oberflächen der Dinge und Wesen. Aber wendet sich der Blick auf den anderen Menschen und dessen Blick, dann wird aus dem „Oberflächensinn“ mit einem Mal ein „Tiefensinn“.

Eine Erklärung für dieses Phänomen führt an den Anfang der leiblichen Bildung, in die frühe Embryonalzeit. Sei es der Riechkolben in der Nase oder die Tast- und Wärmerezeptoren – alle Sinnesorgane kommen zustande, indem die Haut an bestimmten Stellen eine besondere Empfindlichkeit herausbildet. Später wachsen dann Nerven von diesen Sinnesregionen zum Gehirn. Beim Auge ist es anders. Hier steigert sich nicht die Peripherie, sonder hier wächst aus dem Innersten, dem Gehirn, etwas nach außen. Was sich als weiße Lederhaut um die Iris spannt, ist „umgewandelte Gehirnhaut“.

Das Auge ist das einzige Sinnesorgan, bei dem sich das Innere nach außen stülpt. Diese physiologische Besonderheit des Auges gilt auch geistig. Indem man mit dem Auge schaut, wird man gesehen. Kleine Kinder halten die Hand vor die Augen oder schließen die Augen und meinen, man könne sie nicht sehen. Darüber schmunzeln wir, die wir keine Kinder mehr sind. Aus einer seelischen Perspektive haben die Kleinen allerdings Recht. Denn sobald man die Augen verschließt, ist man tatsächlich seelisch nicht mehr sichtbar.

Kein anderes Sinnesorgan zeigt die verschlungene Doppelnatur des menschlichen Körpers von Materie und Geist so eindrucksvoll wie das Auge. Es ist mit den Gesetzen der Optik so großartig zu fassen und doch zugleich der stärkste Ausstrahlungsort der menschlichen Seele, sodass man nur den vielzitierten Augenblick lang ins Augenpaar eines anderen Menschen schauen kann, sonst wird aus der Begegnung, diesem Moment gegenseitigen Entdeckens, eine Attacke.

Aber es ist auch ein Angriff, wenn diese gemeinsame Achse, das Gespräch der Augen, ver­weigert wird. Ich war noch Schüler, als ich in einem schmalen Gang dem DDR-Grenz­polizisten in seinem Schalterhäuschen gegenüberstand. Sein Blick schwenkte mechanisch vom Pass zu mir und wieder zum Pass. Nie habe ich deutlicher gespürt, was ein Staats­apparat sein kann, als in diesem eingeübt seelenlosen Blick. Und so ist es wohl: Wer einer Situation ihre Menschlichkeit nehmen will, der muss den Blick verbieten, denn mit dem Blick entsteht das Miteinander.

Während die Liebe auch dann eine Liebe ist, wenn sie nicht erwidert wird, wenn sie einseitig ist, gehört zur Freundschaft die Gegenseitigkeit. Liebe strömt vom einen zum anderen, des­halb gilt das Herz, das Organ des Strömens, als das Organ der Liebe. Freundschaft dagegen ist der gemeinsame Raum der Zuneigung – wie der menschliche Blick, der sich auch erst dann entfalten kann, wenn er erwidert wird.

aus:  a tempo. Das Lebensmagazin. September 2014. Verlage Freies Geistesleben/Urachhaus

Rundbrief Familienstellen 31.12. 2014

Mal wieder zum Aufstellen zu gehen könnte ein guter Vorsatz für das neue Jahr sein, aber nicht deshalb verschicken wir unseren Terminplan für das erste Quartal 2015 ausgerechnet heute. Es ist einfach, weil die Zeit drängt. Kurz vor den jeweiligen Terminen werden wir uns noch mal mit einer Erinnerung melden.

Wo wir schon dabei sind, bedanken wir uns gern für die verschiedenen Weihnachts- & Neu­jahrsgrüße, die wir (mit oder ohne Musik) bekommen haben und wünschen unsererseits dir ein gutes und frohes neues Jahr.

Deine

Ursula & Thomas

Termine finden Sie im Terminkalender

 

Rundbrief Familienstellen 11 2014

Vor kurzem erzählte uns eine Kollegin von einer wissenschaftlichen Untersuchung an einer deutschen Universität zur Wirksamkeit von Aufstellungen. Bei so etwas winke ich meistens gleich ab. Das interessiert mich nicht wirklich. Aufstellungen wirken so unterschiedlich.

Die Effekte einer Aufstellung haben mit den ursprünglich genannten Themen oft nicht erkennbar zu tun – was logisch ist, wenn man davon ausgeht, dass wir es bei Aufstellungen mit Verstrickungen zu tun haben, dass wir also nicht an den vordergründig bewussten, sondern an verborgenen Themen arbeiten. Wir können manchmal „das Problem“ und „die Lösung“ nicht zusammenbringen, und entsprechend bleiben die Effekte oft verborgen.
Oder die Wirkungen treten bei Personen auf, mit denen wir systemisch verbunden sind, aber nicht in ständigem Kontakt, so dass wir die Effekte bei diesen Personen auch nicht bemerken oder nicht mit der Aufstellung in Zusammenhang bringen.Vor allem jedoch ist das große Wunder der Aufstellungsarbeit, dass wir als Stellvertreter unseren geistigen Horizont so gründlich erweitern können. Wer auf die „Heilung“ starrt, wenn man das so nennen will, verpasst das Wesentliche. Darum mögen wir den feststellbaren heilsamen Wirkungen auch keine übermäßige Aufmerksamkeit schenken.

Obwohl wir also in Bezug auf das Aufstellen von der Wissenschaft nicht viel erwarten, brauchen Menschen, die im Wissenschaftsbetrieb arbeiten, einigen Mut, das Thema der Aufstellungsarbeit überhaupt anzufassen. Denn viele halten dieses obskure Verfahren einer wissenschaftlichen Prüfung gar nicht für würdig. Und da wird die Geschichte, die uns unsere Kollegin erzählte, witzig und unterhaltsam. Gegen diese Untersuchung gab es nämlich prompt Anfeindungen. Die Ergebnisse seien nicht wissenschaftlich valide, weil sie nicht auf einem Doppelblind-Versuch basierten. Was heißt das?

In einem Doppelblind-Versuch werden zum Beispiel Medikamente geprüft: Ärzte geben Patienten ein Mittel, genaugenommen zwei, je nach Versuchs-Gruppe: Das eigentliche Mittel, das geprüft werden soll, oder ein Placebo, das nichts enthält außer dem Wunsch, dass es helfen möge. Der Patient weiß aber nicht, was von beidem er bekommt, er nimmt es „blind“. So kann seine Erwartungshaltung das Ergebnis nicht beeinflussen. Doppelt blind ist der Versuch, wenn auch der Arzt nicht weiß, ob nun die Tablette A oder B die mit dem Wirkstoff ist. Das weiß nur die Versuchs-Leitung. Also auch die Erwartungshaltung des Arztes kann nicht das eine Mittel vor dem anderen begünstigen.

Auf das Familienstellen übertragen hieße das: Der Falleinbringer nimmt an einer Veranstaltung teil, von der er nicht wissen kann, ob es eine Aufstellung ist. Und auch der Kursleiter müsste irgend etwas tun, von dem er nicht weiß, ob es eine Aufstellung ist oder nicht. Die schlechte Nachricht ist: Das geht nicht. Die gute Nachricht ist: Niemand braucht das.

Einer unserer Teilnehmer hat uns kürzlich einen Brief geschrieben, der zwar keine wissenschaftlichen Schlüsse zulässt, aber doch hoch interessant ist. Es geht dabei um die Wirkungen, die es haben kann, wenn man als Stellvertreter an einer Aufstellung teilnimmt: „Bei meiner letzten Teilnahme Mitte diesen Jahres war ich ‘nur’ Stellvertreter gewesen. Das hat bei mir selbst viel bewegt, fast schon mehr als von mir gewünscht. An vier Aufstellungen war ich beteiligt, womöglich die eine oder andere zuviel. Einige Wochen hatte ich auf jeden Fall ganz schön zu knabbern gehabt. Ich hatte harte Seelenarbeit zu leisten, und mein Leben war kein wirklicher Genuß. Den Lohn habe ich danach einfahren können!

Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mit einer Frau in der Rolle des Familien-Ersatz-papas zusammen wohnen können, mit 12-jährigem Sohn und zwei Hunden in einem großen Haus. Dazu gemeinsame Reisen auf die Balearen, eine Nordseeinsel, einem Aufenthalt in München und eine tolle Einbindung in Freundschafts- und Verwandschaftskreis und Nachbar-schaft.
Was für ein sensationeller Entwicklungsfortschritt! Schier unglaublich, es mit meiner Vorgeschichte der frühen schweren Traumatisierung nun im Alter von fast 50 Jahren endlich auch dahin geschafft zu haben. Vielen, vielen Dank dafür euch und eurem Arbeitsrahmen, der mir sehr geholfen hat, den Weg nun auch dahin zu öffnen.
Leider ist das partnerschaftliche ‘Experiment’ mit dieser Frau trotz mancher Stimmigkeiten nach 3 1/2 Monaten nun doch früher als erhofft zum Ende gekommen. Aber das hat und wird mich trotzdem immens stärken. Ich habe die Trennung schon einigermaßen schnell recht gut bearbeiten können, incl. der notwendigen Lehren aus dieser Zeit. Und ich freue mich sehr darauf, mich hoffentlich so bald wie möglich ein weiteres Mal mit vielleicht noch erfolgreicherer, dauerhafterer Bindung wieder in einem ähnlichen familiären Rahmen einlassen zu können.
Sehr gerne komme ich bei nächster Gelegenheit wieder bei euch vorbei, sollte ich noch mehr Bedarf an persönlicher Entwicklung bzw. der Entwirrung spezieller Knoten haben.
Das freut uns natürlich, und wir wünschen dir, dass es gut weiter geht. (Das Schöne an Placebos ist: Wünschen ist wirksam!) Und wann immer dir danach ist, mal wieder zum Aufstellen zu kommen – gern auch „nur“ als Stellvertreter, du bist herzlich willkommen.

Liebe Grüße,

Thomas und Ursula

Rundbrief Familienstellen Oktober 2014

Vor etwa 15 Jahren hat Bert Hellinger auf die Frage, ob ein Paar gemeinsam Aufstellungen anleiten könne, sehr zurückhaltend geantwortet. Nur unter ganz bestimmten Bedingungen (die ich längst vergessen habe) würde er zuraten; grundsätzlich eher nicht.

Ursula und ich tun das seit Jahren und immer besser, dass wir gemeinsam Aufstellungen leiten. Meistens so, dass wir uns in der Anleiter-Rolle abwechseln, auch mitten in der Aufstellung. Doch es ist auch schon vorgekommen, bei größeren Aufstellungen mit vielen Stellvertretern und mehreren „Brennpunkten“ in der Aufstellung, dass wir beide gleichzeitig als Anleiter da hinein gegangen sind.

Was das möglich macht, ist, dass wir praktisch täglich in der Hellinger-Arbeit geistig unterwegs sind, jeder für sich und beide im Austausch. Wir haben ein gleiches Verständnis davon, worauf es beim Familienstellen ankommt, und wir kennen voneinander unsere Stärken und Schwächen und ergänzen uns in aller Regel wunderbar.

Dass das nicht selbstverständlich ist, ist uns sehr bewusst, und auf diesem Wege möchte ich Ursula ein Danke dafür sagen.

Kann man auch für Mitglieder der eigenen Familie aufstellen? Auch das ist eine spannende Frage für Aufsteller. Es geht. Wir haben es schon oft gemacht, allerdings selten in Anwesenheit unserer Verwandten, meistens nur für sie.

Insofern war es etwas Besonderes und auch Beglückendes, dass bei unserem letzten Aufstellungstag meine große Schwester mit ihrer Tochter und deren beiden Töchtern da war und wir für die Jüngeren aufgestellt haben.

Wenn es nicht meine Verwandten gewesen wären, bliebe die wiederkehrende Frage, ob es geht, dass eine Mutter gemeinsam mit ihrer Tochter zum Aufstellen kommt. Klar geht das!

Allerdings: Wenn Themen der Kinder aufgestellt werden, egal wie alt diese Kinder sind, ist es völlig in Ordnung, wenn die Eltern dabei sind. Umgekehrt sollten Eltern ihre Themen nicht vor ihren Kindern ausbreiten. Jedenfalls nicht, wenn es sich um eigene persönliche Themen oder gar die Paarbeziehung der Eltern selbst betrifft. Da dürfen die Kinder nicht hinein gezogen werden. Das tut niemandem gut.

Auch für diese Erinnerung: Danke, Ursula. Ich selbst neige manchmal dazu, die so genannte Ordnung der Rangfolge zu vergessen.

Herzliche Grüße,

Thomas