Gehen mit dem Geist, ISBN:978-3-9816863-0-2,  27,- € (2015)

Das Lehrbuch für das geistige Familienstellen nach Bert Hellinger, Gehen mit dem Geist, ist in den Jahren 2011 bis 2014 entstanden. Die Texte, die Thomas Gehrmann geschrieben hat, sind aus der gemeinsamen Aufstellungspraxis und dem Austausch über die Hellinger-Arbeit mit Ursula Steinbach erwachsen.

Die Vorgehensweise des geistigen Aufstellens ist ihrem Wesen nach mystisch. Sie folgt einer innerlich wahrgenommenen Führung durch geistige Kräfte. Kann man so etwas denn aus einem Lehrbuch erlernen? Ja, das geht.

Es gibt für dieses Lernen nur eine Voraussetzung, nämlich dass man die Aufstellungsarbeit aus eigenem Erleben kennt. Das galt auch schon für das systemische Familienstellen, dass man Bücher darüber nicht verstehen konnte, bevor man das Stellver­treter-Phänomen am eigenen Leibe erfahren hatte. Beim so genannten neuen Familienstellen kommt wesentlich die Philosophie hinzu, die Bert Hellinger in zahlreichen Büchern, kurzen Geschichten und Vorträgen veröffentlicht hat.

Gehen mit dem Geist ist, wie Bert Hellinger schreibt, „von Anfang bis zum Schluss ein praktisches Buch“, nämlich ein Lehrbuch für jene, die es praktisch anwenden wollen. „Es sagt im Grunde alles, was Leiter von Aufstellungen über das Familienstellen wissen müssen.“

Es ist aber auch sehr gut lesbar für jeden, der verstehen möchte, was es mit den „Bewegungen des Geistes“ auf sich hat.

T. Gehrmann & U. Steinbach
Gehen mit dem Geist.
Lehrbuch für das geistige Familienstellen nach Bert Hellinger
ism-Verlag Kassel
Grüner Waldweg 33, 34121 Kassel
2., überarbeitete Auflage 2015

Ungefähr im Jahr 2004 hat sich Bert Hellinger einer Aufstellungsform zugewandt, die er „Bewegungen des Geistes“, „Gehen mit dem Geist“ oder „angewandte Philosophie“ nannte. Damit zog er eine Trennlinie zu den therapeutisch angewandten reinen Systemaufstellungen.
Während es für das systemische Familienstellen schon lange mehrere gute Lehrbücher gibt, blieb das neue, geistige Familienstellen für lange Zeit eher unfassbar, Wahrheit in Bewegung eben und in ständiger Fortentwicklung. Erst um 2012 war diese Entwicklung dieser Arbeits­weise so weit gereift, dass sich ihre Grundzüge und wesentlichen Elemente in einem Buch zusammen­fassen ließen.
Das Buch Gehen mit dem Geist wendet sich an alle, die verstehen wollen, was genau der Begriff Geistiges Familienstellen meint. Es enthält Anleitungen zur Anwendung und Übungen, die es als Lehrbuch ausweisen, sei es zur begeleitenden Lektüre für Teilnehmer/innen von Aus­bildungs-Kursen, sei es zum Selbststudium, sowohl für Anfänger als auch für Fortgeschrittene.
Thomas Gehrmann und Ursula Steinbach haben dieses Buch parallel zu der Auswahl von Hellinger-Videos für eine Lehr-Edition geschrieben. Manche Kapitel (z.B. Natürliche Mystik) sind Mitschriften aus diesen Videos, Hellinger-Originaltext. Zahlreiche Beispiele aus diesen Videos werden im Buch diskutiert, aber immer so, dass alles verständlich ist, auch wenn dem Leser des Buches das Video nicht zur Verfügung steht.
Gehen mit dem Geist enthält 109 kurze Kapitel, die sich in Einleitung plus 12 Abschnitte unter­gliedern:
1. Die Grundlagen
2. Die Philosophie
3. Das Gewissen
4. Voraussetzungen
5. Bewegung
6. Die Mutter
7. Meditationen und Übungen
8. Aufstellung als innere Arbeit
9. Die Ordnungen
10. Die Dynamiken
11. Womit fangen wir an?
12. Wege zur Lösung
Diese Leseprobe enthält folgende Kapitel:
Was bedeutet „geistiges Familienstellen“?
Was bedeutet „geistiges Familienstellen“?
Woher weiß er das?
Aus der Erstarrung in die Bewegung
Ein fernes Licht. Hinwendung zur geistigen Ebene
Aus dem Bauch schauen
„Ich folge dir nach“
Wie fangen wir an?

Was bedeutet „geistiges Familienstellen“?

Bekannter als das geistige Familienstellen ist die ältere Form, das systemische Familienstellen. In einer systemischen Aufstellung betrachten wir die Probleme und Konflikte einer Person in einem größeren Zusammenhang. Das ist vor allem die Verbindung mit ihrer Familie, in deren Geschichte sie eingewoben ist.
Während eine psychologische Betrachtung sich auf die Lebensumstände einer einzelnen Person beschränkt, führen systemische Aufstellungen auf eine höhere, weitere Ebene, nämlich die der Familie und der Vorfahren, mit denen wir zutiefst verbunden sind. Sie kommen entsprechend zu einem weiter gefassten Verständnis und zu weiter gehenden Lösungen.
Das geistige Familienstellen führt uns noch einmal auf eine höhere, weitere Ebene. Hier gehen wir von der Grundannahme aus, dass es eine schöpferische geistige Kraft gibt, die alles, was ist, ins Dasein gebracht hat. Die Schöpfung dieses Geistes ist lebendig, und sie entwickelt sich in einer ständigen Bewegung weiter. In dieser Evolution manifestiert sich die Bewegung jener geistigen Kraft.
Bildlich gesprochen sind diese Bewegungen des Geistes wie die Strömungen des Meeres. Ein einzelnes Menschenleben ist wie eine Welle, die sich aus diesem Meer erhebt, eine Weile vorwärts rollt, sich vielleicht auch überschlägt, und dann wieder versinkt. Wie viel Bewusstsein kann die einzelne Welle von der Bewegung dieser großen Strömung haben und von der Weite des Meeres?
Beim geistigen Familienstellen öffnen wir uns innerlich für diese Tatsache (oder für diese Möglichkeit), dass wir mit unserem persönlichen Denken und Wollen, mit unseren Problemen und Konflikten nur ein Teil dieser großen Bewegungen jenes Geistes sind. Wir alle tun unser Bestes – ohne die Möglichkeit zu erkennen, was im Sinne dieser großen Bewegungen das Beste wäre.
Hier kommt die systemische Aufstellungsarbeit an Grenzen. Wenn wir jedoch beim Aufstellen „mit dem Geist gehen“, wenn wir uns innerhalb der Aufstellung seinen Bewegungen überlassen, können wir andere Einsichten und Lösungen jenseits dieser Grenzen bekommen. Diese Einsichten und Lösungen gehen vor allem über die Grenzen unseres Gewissens hinaus in einen Bereich, in dem wir alles und jeden als von diesem schöpferischen Geist erschaffen und gewollt erkennen und insofern als gleich.
Neben diesen beiden Hauptzweigen des Familienstellens nach Hellinger gibt es vielerlei Sonder­formen, auf die wir hier nicht weiter eingehen. Man kann zur Aufstellungsarbeit mancherlei hinzu fügen, und man kann es auch lassen. Doch jede Form der Aufstellungsarbeit baut auf vier Elementen auf, ohne die es nicht geht. Und damit beginnen wir. …

Woher weiß er das?

Seit ich Bert Hellinger 1999 zum ersten Mal persönlich auf der Bühne erlebte, blieb es mir oft ein Rätsel, warum er dieses machte oder jenes sagte. „Woher weiß er das?“, fragte ich mich. Wenn er die Stellvertreter ihre Position wechseln oder sie etwas sagen ließ, plötzlich neue Stellvertreter einführte, auch ohne sie zu benennen, oder wenn er die Aufstellung plötzlich abbrach, hatte ich oft keine Idee, wieso.
Anderen ging und geht es genau so. So fragte ihn ein Teilnehmer nach einer Aufstellung1: „Woran haben Sie gesehen, dass die Mutter weg wollte?“ – also: weg aus dem Feld ihrer Familie, weg aus dem Leben, in den Tod. Und Hellinger antwortet: „Ich habe das ausprobiert. Ich habe sie [die Stellvertreterin der Mutter] erst mal dort hin gestellt, aber das war nicht genug. Man hat an der Reaktion der Stellvertreter gesehen, dass das nicht genug war. Dann habe ich sie zur Tür raus geschickt. Da hat sich das eine aus dem anderen ergeben.“
Soso, das hat er also einfach ausprobiert. Aus heiterem Himmel? Mitnichten! Schauen wir das Bild der Aufstellung an: Die Mutter steht beziehungslos zu allen, mit Ausnahme der Tochter, und umgekehrt schaut auch die Tochter nur auf die Mutter. Die Befragung der Stellvertreter führt zu entsprechenden Aussagen. Die Mutter: „Ich habe nur meine Tochter im Blick, sonst bin ich ganz isoliert.“ Hellinger: „Wie geht es der Tochter?“ Tochter: „Ich spüre Verantwortung für die Mutter. Ich fühle mich stärker als sie.“
Man könnte – deutend – sagen: Die Mutter ist ziemlich weggetreten, sie lebt kaum noch. Ihre Tochter will sie retten und fühlt sich entsprechend groß. Sie fühlt sich größer als die Mutter, was sie natürlich nicht ist. Wir haben es mit einer dramatischen Störung der Ordnung zu tun! Wären wir schon mit den Dynamiken vertraut, hätten wir alle Indizien, dass die Tochter bereit ist, anstelle der Mutter aus dem Leben zu gehen – wie immer das im wirklichen Leben aussehen mag. Das ist die Dynamik „Ich für dich.“ Und der Blick der Mutter auf die Tochter heißt: „Du für mich!“
Die Aufstellung ist aus dem Jahr 1994. Da waren die Dynamiken und ihre Anzeichen auch Hellinger noch nicht so bewusst. Aber bewusst genug, dass er bei der Mutter den Zug zum Tod erkannt hat. Vielleicht weniger erkannt als geahnt, vermutet. Und richtig vermutet, wie alle sehen können, als Hellinger es ausprobiert:
Er lässt die Mutter zunächst etwas aus dem Feld der Familie hinaus gehen, dann fordert er sie auf, zur Tür hinaus zu gehen und den Saal zu verlassen. Später berichtet sie, dass es draußen für sie gut war: „Draußen ist das Leben!“, worauf Hellinger antwortet: „Das ist die Illusion bei Selbstmord.“
Jenseits von solchen Indizien, die im Äußeren sichtbar sind, hat Hellinger auch Eingebungen, denen er folgt. Dann sagte er früher: „Mir kommt da so ein Bild …“ Das half mir damals auch nicht weiter. Mir kam kein Bild. Heute geht er noch weiter und erklärt: „Also, ich gehe in einen anderen Bereich und werde da geführt.“ Können wir Normalsterblichen da folgen, oder bleibt uns nur, mit offenem Mund zu staunen? …

Aus der Erstarrung in die Bewegung

Ein Kind hatte panische Angst vor Feuer. In einer Aufstel­lung2 werden „das Kind“ und „das Feuer“ aufgestellt, dann kommt eine tote Person dazu. Als Hellinger fragt: „Wer ist verbrannt?“, macht das Feuer einen Schritt auf den Toten zu. Als Hellinger darauf sagt: „Die Frage ist: Wer hat jemanden verbrannt?“, hebt das Kind den Kopf und schaut das Feuer an. An dieser Reaktion erkennen wir, dass die Frage ins Schwarze getroffen hat – sie hat etwas bewegt.
Erstarrung ist meistens das Ergebnis eines Traumas. Eine traumatische Situation definiert sich geradezu dadurch, dass eine bestimmte Bewegung, die geboten gewesen wäre, nicht möglich war, zum Beispiel eine Flucht aus einer Gefahr. Wir fallen dann in eine Schockstarre und überleben „scheintot“.
In der Aufstellung darf dieses Schlimme noch einmal Gestalt annehmen, es darf sichtbar werden, muss nicht mehr verleugnet werden. Wir schauen es an: Ja, es ist geschehen. Die Wahrheit, ans Licht gebracht, ist immer heilsam. Vorausgesetzt, wir schauen auch hin.
Meistens ist es ja der Stellvertreter, der diesem Schrecken in der Aufstellung begegnet. Und während dessen sitzt der Falleinbringer daneben und schließt angstvoll die Augen. Er muss hinschauen! Dafür muss der Anleiter sorgen: „Schau hin.“ Wenn nun beim Stellvertreter Tränen fließen, ist das wunderbar. Tränen bringen etwas in Fluss. Die erstarrten Gefühle werden wieder lebendig.
Wenn beim Falleinbringer Tränen fließen, ist das zwiespältig. Wer weint, sieht nicht. Also wieder: „Schau hin!“ Die Wirklichkeit ist meist weniger schlimm als unsere Fantasie über sie. Darum erleichtert das Hinschauen meistens. Ich habe es noch nie anders erlebt, als dass Aufstellungen uns nicht mehr Schrecken zumuten, als wir ertragen können. Doch es ist nicht die Aufgabe des Aufstellers, durch eigene Wühlarbeit etwas Verborgenes zu Tage zu fördern. Seine Aufgabe ist, bereit und offen zu sein für alles, was sich zeigen will.
Beim Hellinger-Trainingscamp3 konnte sich ein Mann in der Aufstellung nur äußerst mühsam auf seinen Vater zu bewegen. Wolfgang Deußer, der Aufsteller, rief eine Frau hinzu und bat sie, eine Hand auf die Schulter, später auf die Wirbelsäule des Mannes zu legen. Mit dieser Berührung im Rücken konnte der Mann weiter voran gehen. Schließlich erreichte er ihn, und sie umarmen sich, sehr bewegt. Deußer sagte dazu:
„Wenn wir ein starkes Trauma haben, dann kommen wir nicht allein in die Hin-Bewegung. Dann braucht es Unterstützung. Wenn ihr in einer Bewegung seid, und auf einmal kommt ein Gefühl der Ohnmacht, dann ist das eine traumatische Reaktion. Dann brauchen wir jemanden, der uns hilft durch diese Ohnmacht hindurch zu gehen. Das können wir nicht allein. Trauma ist wie Sterben: Wir verlieren den Kontakt zu unserer Lebensenergie. Wenn ein anderer uns dann berührt, dann bringt er uns mit dieser Lebensenergie wieder in Kontakt. Dann können wir da hindurch gehen.“4 …

Ein fernes Licht. Hinwendung zur geistigen Ebene

„Mein Vorschlag ist: Je zwei tun sich zusammen. Am besten solche, die sich nicht kennen. Es wird nicht gesprochen. Die eine Person, das bist du selbst. Und die andere Person ist dieses ‚Licht des Lebens’. Und ihr schaut euch nur in die Augen, ohne jede Bewegung. Nichts anderes. Und wer das Licht vertritt, bleibt völlig gesammelt. Sobald jemand spricht, ist er weg von der Übung. Sobald jemand helfen will. Dieses ewige Licht bewegt sich nicht. Und auch wir sind vor diesem Licht nur da. Vor diesem Licht gibt es keine Opfer und niemanden, dem es schlechter geht. Wer in die Emotionen geht, geht weg vom Licht des Lebens. Die Augen aufgehalten! Nur schauen.“
Beim Trainingscamp im Mai 2012 leitete Hellinger neben dieser noch weitere Übungen an, bei denen „ein fernes Licht“ hinzu gestellt wurde. Einmal zum Thema Krankheit: „Stell das, was dir weh tut, vor dich hin. Schau gleichzeitig auf ein fernes Licht“ 5. Ein anderes Mal zum Thema Mutter: Ein Teilnehmer stellt sich in eigener Rolle hin, ein anderer gegenüber als dessen Mutter, und schließlich hinter die Mutter „ein fernes Licht“. Oder: Jemand in eigener Person, gegenüber ein Stellvertreter für dessen Partner, und hinter diesen das ferne Licht.
Schon vor Jahren schlug Hellinger Partnern in einer Paarbeziehung den Satz vor: „Ich liebe dich und das, was dich und mich führt.“ Das war in etwa das Gleiche wie nun „das ferne Licht“. Ähn­lich, wenn es um eine Krankheit geht. Eine Krankheit vertritt in der Regel eine „ausge­schlossene“ Person, mit der wir verbunden sind.
Wir können nun entweder systemisch arbeiten und zusehen, dass die ausgeschlossenen Personen wieder ihren Platz bekommen. Oder wir gehen auf die höhere Ebene, auf der wir von unseren persönlichen Leiden und Wünschen absehen und auf das Große schauen, das uns führt. Wobei dieses Große unfassbar und unsichtbar bleibt, auch wenn wir es dinglich benennen, etwa als ein fernes Licht. Bert Hellinger erläutert dazu: „Solange wir uns konkrete Dinge vorstellen, wie ein Licht, das leuchtet, kann es nichts Unendliches sein. Sobald wir diese Bilder vom Licht konkret nehmen, ziehen wir sie herab in unseren Griff. Und dann werden sie dunkel.
Es gibt eine Meditation, oder eine Kontemplation, die richtet sich auf ein Licht, und das ist eine Schau auf ein Nicht. Die Schau in der Kontemplation richtet sich immer auf ein Nicht. Und die Schau sieht nichts, ist aber hingezogen auf etwas. Und so ist das mit der Metapher des Lichtes auch. Am Ende richtet sich etwas auf ein Nicht, und das heißt: auf etwas, das kein Sein hat. Denn alles Sein ist begrenzt.
Wenn du dir das Licht vorstellst, gibst du ihm eine Grenze. Und damit bist du ganz woanders. Also, in dieser anderen Dimension hören die Dinge, das Seinshafte, auf. Und dann sind wir in der anderen Dimension. Sobald du das fassen willst, hast du etwas in der Hand. Und wenn du sie aufmachst, ist nichts da.“6 …

Aus dem Bauch schauen

„Und dann schauen wir mit unserem Bauch“, sagt Hellinger in seiner kleinen Meditation. Aber wie schaut man aus der Tiefe des Bauches? Als ich vor Jahren in einem Chor sang, übten wir, die Stimme beim Singen nicht in der Kehle zu bilden, sondern sie aus der Tiefe des Bauches aufsteigen zu lassen. Der Klang ist anders, und es fühlt sich auch anders an. Die Stimme ist anders da – ich bin anders da! Und so ist das beim Schauen auch. Unser Schauen hat eine Wirkung auf uns selbst und den anderen, je nachdem, wie wir da sind, wo unser Schauen entspringt.
Wenn Hellinger über das Schauen aus dem Herzen, oder tiefer noch: aus dem Bauch, spricht, dann ist das berührend und schön. Und es ist eine konkrete Handlungsanweisung. Übe das! Du kannst es jederzeit, an jedem Ort üben. Vor allem natürlich beim Familienstellen. Wenn du als Aufstellungs­leiter während der ganzen Aufstellung – von dem Moment an, wo du einen Falleinbringer auswählst – auf diese Weise schaust, wenn du auf den Menschen neben dir, auf die Aufstellung, auf die Gruppe, auf dich selbst auf diese Weise schaust, kannst du als Aufsteller nichts falsch machen.
Große Worte? Zu große Worte? Was geschieht, wenn ich darauf achte, dass ich mein Schauen aus dem Bauch heraus geschehen lasse? Ich nehme mein Ego, mein Denken zurück, und ich spüre meinen Körper. Ich spüre meinen Atem. Ich bin da. Ich bin wirklich, hier und jetzt. „Alles, was du im Rhythmus deines Atems tust“, sagt Daya Mullins, „ist Meditation.“ Und das ist der Zustand, aus dem heraus wir unseren Wahrheitssinn entfalten. Von hier oder gar nicht.
Und was geschieht, wenn ich mir sage: „Achte auf deinen Atem?“ Ich spüre meinen Atem und den vom Atem bewegten Körper. Aber nicht tiefer als bis zum Zwerchfell. Wenn es sehr gut geht, auch bis zum Bauchnabel. Vielleicht geht es anderen anders, aber bis zum Beckenboden hin spüre ich mich nicht, wenn ich auf meinen Atem achte.
Umgekehrt, wenn ich meine Aufmerksamkeit auf die Gegend des Beckenbodens richte, spüre ich meinen ganzen Leib und den Atem – und das Denken versickert wie Wasser im Sand! Das Ego versickert wie Wasser im Sand. Wenn Hellinger sagt, dass er seine Zuflucht bei der Leere nimmt, die hinter allem Seienden liegt – so ähnlich muss sich das anfühlen.
Und du kannst es üben! Lass deinen Blick zum Fenster hinausgehen und spüre, wie dein Schauen vom Beckenboden her kommt. Du brauchst nicht einmal aufzustehen und den Kopf zu wenden: Du kannst einfach für einen Moment auf dieses Buch schauen, auf diese Weise. Tu es jetzt, für einen Moment!
Kannst du den Text weiter lesen und gedanklich verarbeiten, wenn du auf diese Weise auf ihn schaust? Ich könnte es nicht. Das Durchdenken einer Sache hört dann auf. Doch der Text wirkt dann auf eine andere Weise. Auch die Hellinger-Videos wirken auf eine andere Weise, wenn du sie aus dem Bauch heraus anschaust. Der Blick wird weiter. Was die Aufstellung offenbart, erreicht dich auf eine andere Art und Weise.
Wenn dein Blick aus einer größeren Tiefe kommt, reicht er auch in eine größere Tiefe und Weite. …

„Ich folge dir nach“

Für die erste Dynamik geben wir ein Beispiel aus unserer eigenen Praxis: Eine junge Frau hat vor Jahren ihre Mutter verloren. Die war krank am Herzen und ist bei einer Operation im Krankenhaus gestorben. Außerdem war ein Geschwister als Säugling am plötzlichen Kindstod gestorben.
In der Aufstellung schaute eine Stellvertreterin vor der jungen Frau auf den Boden. Als wir dort jemanden hinlegten, fing die junge Frau an zu zittern. Eine Stellvertreterin, die sich abseits gehalten hatte, näherte sich und legte sich zu der Person am Boden. Die junge Frau begann zu weinen und zitterte noch heftiger. Die beiden am Boden, also: die Toten, lagen eng aneinander, offenbar glücklich.
Die Stellvertreter waren, außer der jungen Frau, nicht benannt. Doch es schien uns klar: Die erste tote Person war das früh gestorbene Geschwister, und die Mutter ist ihm in den Tod nachgefolgt. Die lebende Tochter schaute wie gebannt auf die beiden, auch in ihr wirkte die Tendenz, den beiden in den Tod nachzufolgen. Später konnte sie sich von den Toten verab­schieden und an ihnen vorbei gehen, hinein in ihr eigenes Leben.
Bei dieser Dynamik erkennen wir etwas sehr wichtiges: Es zieht niemanden in den Tod um des Todes willen. Was wissen wir denn schon über den Tod, dass er für uns anziehend sein könnte? Es zieht uns dorthin, weil dort jemand ist, mit dem wir wieder vereinigt sein möchten! …

Wie fangen wir an?

Bevor Hellinger eine Aufstellung beginnt, sagt er oft: „Die Frage ist, wie fangen wir an?“ Nun, wie? Möglichst einfach! Auch für Aufsteller gilt: Kompliziert wird es von alleine. Einfach musst du es machen.
Wenn du die Wahl hast, mit zwei Stellvertretern zu beginnen oder mit fünfen, dann nimm zwei. So wenige wie möglich. Wie viele nötig sind, wird sich schon zeigen. Genau genommen werden es dir die Stellvertreter zeigen. Wenn die Stellvertreter intensiv auf eine bestimmte Stelle schauen, stellst du dort jemanden hin oder, wenn er auf den Boden schaut, lässt du jemanden sich dort hin legen. Und als Aufsteller bist du auch eine Art Stellvertreter. Wenn du das Gefühl hast, da oder dort fehlt jemand – stell jemanden hin, und das Weitere wird sich zeigen.
Viele Aufsteller, besonders Anfänger, glauben, sie müssten bereits zu Beginn der Aufstellung verstehen, worum es geht. Das ist Unsinn. Du musst dich nur auf deine Stellvertreter verlassen. Und, ja, du musst dich auf die Stellvertreter verlassen können. Was kannst du selbst dazu beitragen? Übe Vertrauen! Wenn du deinem Stellvertreter etwas zutraust, wird er sich auch etwas zutrauen. Wenn er an sich zweifelt, wird er dastehen wie ein Stockfisch oder sagen, er spüre nichts.
Ermutige ihn, sanft und freundlich! Joël Weser sagt seinen Teilnehmern zu Beginn eines Seminares: „Du kannst hier nichts verkehrt machen. Und genauso kannst du hier nichts richtig machen. Wenn du einfach bist, wie du gerade bist, ist es okay.“
Ermutige den Stellvertreter in der Aufstellung, seinen innerlich empfundenen Impulsen zu folgen. Erinnere ihn daran, sich langsam zu bewegen. Schnelle Bewegungen kommen nicht aus dem geistigen Feld, sondern aus dem Gewissen. Das Gewissen ist immer sofort da. Die Bewe­gungen des Geistes hingegen sind fast immer langsam und tastend. Du siehst, ob jemand „geführt“ ist oder nicht.
Auch für die Frage „Wie fangen wir an?“ gilt: Entscheidend ist nicht, wie du anfängst, sondern dass du anfängst!