Ein kurzes Plädoyer dafür, Familienstellen als Therapie im ursprünglichen Wortsinn zu verstehen: als Gottesdienst. 2006. Die Aufstellungsarbeit nach Hellinger hat nicht nur Freunde. Der zentrale Vorwurf der Gegner lautet „autoritär“, soweit er sich gegen die Person von Bert Hellinger richtet und „unwissenschaftlich“, soweit er sich gegen das Verfahren als solches wendet. „Orakel“ sei das, ein „Mysterienspiel“. Man kann nun, und manche Aufsteller tun das, dagegenhalten und versuchen, die Aufstellungsarbeit wissenschaftlich abzusichern. Doch wozu?

In der Tat begeben wir uns mit Familienaufstellungen auf den Boden des Mystischen. Das heißt: Wir erfahren „mit geschlossenen Augen“, in unserem Inneren. Für mich ist Bert Hellinger weniger ein Therapeut als ein Mystiker, und seine Arbeit ist praktische Mystik.

Die Idee, der Aufstellungsarbeit ein wissenschaftliches Fundament zu geben, ist gebunden an ein Konzept von Therapie, in dem Krankheiten definiert und behandelt werden, in dem der Therapeut der Herr des Verfahrens ist und seine Kompetenz den Erfolg garantiert. Diese Idee teile ich nicht, was das Familienstellen betrifft.

Das Wesen dieser Arbeit ist meines Erachtens nicht, Krankheiten zu behandeln, sondern im ursprünglichen Wortsinn von Therapie Dienst am Göttlichen. Und so fühle ich mich in der Aufstellungsarbeit auch von Lichtwesen, Engeln oder anderen, unterstützt und geleitet. Sie sind es, die das „Feld“ für uns öffnen, Verbindungen zu den Seelen von Lebenden und Toten oder zu vergangenen Ereignissen herstellen.

Unerklärbare Phänomene

Wer zum ersten Mal in einer Aufstellung steht, der wundert sich darüber, dass er als Stellvertreter Empfindungen oder Gedanken hat, die nicht seine eigenen sind. Er weiß auf einmal etwas, was er eigentlich gar nicht wissen kann. Niemand hat es ihm gesagt. Irgendwoher kommt ihm etwas zugeflogen. Woher? Wie? Man kann dieses Phänomen „wissendes Feld“ nennen, doch das sind letztlich nur Worte. Es bleibt ein Mysterium.

Dass wir auch Stellvertreter für verstorbene Personen aufstellen, ist uns selbstverständlich geworden, doch bleibt die Frage: Wie geht das eigentlich? Da ist dann manchmal vom „Zellgedächtnis“ die Rede oder dass Erinnerungen „in der DNS gespeichert“ seien, oder die Quantenphysik wird bemüht. Warum nehmen wir nicht einfach an, dass wir in Aufstellungen (über die Stellvertreter als Medium) mit den Seelen der Toten in Kontakt treten?

Eine größere Kraft

Wir sind nicht nur, wie Hellinger oft sagt, von einer größeren Kraft „in den Dienst genommen“. Wir werden – konkret in den Aufstellungen – von dieser Kraft auch beschenkt und geführt. Sicher gibt es da Wissen oder Techniken, die man lernen und anwenden kann. Doch ich gehe davon aus, dass in jeder Aufstellung die eigentliche Arbeit von Lichtwesen getan wird. Meine Kunst als Aufstellungsleiter besteht gerade darin, ihre Arbeit nicht zu stören, ihnen nicht (im Bewusstsein meiner Kompetenz) durch die Saat zu trampeln. Das ist für mich ein wesentlicher Aspekt der inneren Haltung als Aufstellungsleiter.

Mit dem Bewusstsein, daß uns die Aufstellungsarbeit direkt mit der geistigen Welt verbindet, wird keineswegs alles klar und einfach. Neue Fragen und Unsicherheiten tun sich auf. So gibt es Kollegen, die in einer Aufstellung so leichthin mal eine Seele „ins Licht schicken“, wie man Salbe auf eine Prellung schmiert. Das graust mich.

Andere graust es vielleicht, wenn ich etwa die Tempel von Gottheiten aufstelle, um durch den Stellvertreter mit der Gottheit in Kontakt zu kommen, wenn sie dem zustimmt. Keineswegs gehe ich davon aus, daß, wenn wir „Gott“ aufstellen, immer nur unser Bild von Gott aufstellen. Auch hierbei halte ich wieder die innere Haltung für entscheidend, ob man so arbeiten darf oder nicht.

Gesundheit? Ja, auch…

Bei solch einem Verständnis von Therapie, nämlich Gottesdienst, ist klar, daß der Wunsch nach körperlicher oder geistiger Gesundheit nur ein Anlaß für die Arbeit ist, aber nicht der letztgültige Maßstab. In einer gechannelten Belehrung von Hilarion, einem der sogenannten aufgestiegenen Meister, heißt es: „Die Erde stellt für die, die in einer Inkarnation auf sie kommen, eine Schule und ein Krankenhaus dar.“ Es geht also bei unserem Erdendasein um Heilung und um Lernen – wobei (aus dieser Sicht) Heilung nicht nur heißt, ein körperliches oder seelisches Symptom wegzumachen.

Als Klient in der Aufstellungsarbeit bekomme ich Heilung nur durch einen Zuwachs an Bewusstheit. Als Stellvertreter kann ich sogar wichtige Lebensthemen bearbeiten, die nicht  Teil meiner eigenen Biografie sein müssen. Wenn unser Erdendasein Schule ist, haben wir hier die Gelegenheit zu ein paar Extra-Lektionen. Und nichts davon geht ohne die grundlegende Umkehr, das ist die Hinwendung (über die Eltern) zur Quelle, zum Ursprung. Unde origo inde salus – vom Ursprung kommt das Heil.

Jayin Thomas Gehrmann

Dieser Artikel erschien in Körper Geist Seele, Berlin November 2006