In Märchenaufstellungen werden nicht Märchen als solche aufgestellt, sondern sie verkleiden das Anliegen des Falleinbringers. Fünf Fallbeispiele. 2005. Auf den Gedanken, im Kontext systemischer Aufstellungsarbeit über Märchen nachzudenken, brachten mich Bücher: zunächst die Lektüre von Thomas Schäfers „Mann, der tausend Jahre alt werden wollte“1, das verschiedene Märchen zum Thema Sterben und Tod systemisch deutet. Das Buch „Ach wie gut, daß ich es weiß“ von Schneider und Gross2 gab mir den Anstoß, in Aufstellungen praktisch mit Märchen zu arbeiten und zu experimentieren.

Die ersten Experimente ergaben sich aus Situationen in Aufstellungen, in denen ich mir etwas einfallen lassen mußte. Im einen Fall (der Klient fühlt sich schwer und ohne Freude) hatte ich nur einen Stellvertreter aufgestellt, nämlich die „Schwere“. Die stellte sich an die Wand und regte sich fortan nicht mehr. Was tun? Ich fragte diesen Stellvertreter: Welches Märchen fällt dir gerade ein? Der Wolf und die sieben Geißlein! Nächste Frage: welches sind für dich die wesentlichen Elemente dieses Märchens? Dann hat „die Schwere“ Stellvertreter für diese Elemente ausgewählt und aufgestellt.

Das andere Mal hatten wir am Ende eines Seminar-Tages noch Zeit, aber kein Teilnehmer aus der Gruppe wollte mehr ein eigenes Anliegen bearbeiten – außer einer, die aber an diesem Tag schon eine Aufstellung gehabt hatte. Dem mochte ich nicht nachgeben, so daß ich statt dessen vorschlug, ein kollektives Thema für alle aufzustellen. Jede/r benannte, welches Thema ihr/ihm gerade nahe war – das meiste davon bezog sich auf die Beziehung der Geschlechter. Die Aufgabe der Ko-Leiterin3 war es dabei, alles aufzunehmen und die Frage „Welches Märchen fällt dir dazu ein?“ spontan zu beantworten. Es war Dornröschen.

Abgesehen von speziellen Märchen-Aufstellungskursen drängte sich die Form einer Märchen-Aufstellung dann auf, wenn eine andere systemische Aufstellung „festklemmte“ oder ohne greifbares Ergebnis zu Ende ging und dann eine Stellvertreterin, bewußt oder unbewußt, auf ein Märchen anspielte. (Siehe dazu die Beispiele „König Drosselbart“ und „Suppenkasper“.)

Der Verlauf all dieser Aufstellungen war weit entfernt von dem, was der überlieferte Märchentext mitteilt, und auch entfernt von bekannten (systemischen) Deutungen dieser Märchen. So schaute der Prinz in der Dornröschen-Aufstellung eine Weile auf das am Boden liegende Dornröschen und meinte dann sinngemäß: „Als Prinz müßte ich sie jetzt wohl küssen. Aber sie ist überhaupt nicht mein Typ!“

Prinzen haben einen eigenen Charakter, während sie im Text des Märchens nur blaß und schablonenhaft erscheinen; die Stiefmütter sind nicht böse, oder in „Frau Holle“ wird der Hahn auf dem Tor zur entscheidenden Figur. Märchen sehen in der Aufstellung sehr anders aus, als wir sie aus dem Buche kennen, wenn sie im Kontext des persönlichen Anliegens eines Klienten aufgestellt werden. Ob man Märchen überhaupt anders aufstellen kann, ist für mich eine offene Frage. Die Schablone (etwa des Prinzen) wird vom Leser oder Hörer des Märchens nach seinen eigenen Maßgaben ausgefüllt, und entsprechendes erleben wir in der Aufstellung: Wir erleben den spezifischen „Prinzen“ etc. des Klienten.

Im folgenden stelle ich verschiedene Aufstellungen von Märchen oder Mythen aus dem vergangenen Jahr vor und diskutiere jeweils verschiedene grundsätzliche Gedanken zur Aufstellungsarbeit mit Märchen oder anderen Geschichten.

König Drosselbart

Die Klientin ist arbeitslos und in einer sehr angespannten finanziellen Lage. Es geht um das Thema „Geld“ bzw. „Broterwerb“. Sie hat eine Vielzahl von Ideen und Projekten im Kopf, dazu eine hochfliegende Vision. Mit nichts davon kommt sie wirklich voran, und „es muß dringend etwas passieren.“ Dazu wünscht sie sich eine Aufstellung all dieser Projekte.

Meinem Selbstverständnis als Supervisor folgend mache ich in diesem Fall nicht das übliche knappe Interview, sondern eher ein Beratungsgespräch. Darin kommt zutage, daß es zwar ein Arbeitsangebot gäbe, das aber bedeute familiäre Verbindungen, und über die wolle sie jetzt nicht sprechen. Ich sage, daß meiner Meinung nach all ihre Projekte nicht wirklich etwas mit Broterwerb zu tun haben. Sie will aber eine Aufstellung zu genau diesen Projekten.

Die folgende Aufstellung zeigt, daß keine der verschiedenen Positionen (die einzelnen Projekte und „der Broterwerb“ als solcher) mit irgendeiner anderen etwas zu tun haben will. Nach verschiedenen Interventionen zeigt sich kein Ansatz einer Lösung, und ich löse die Aufstellung auf. Im Auseinandergehen sagt die Protagonistin (die Stellvertreterin der Klientin): „Ach, ich arme Jungfrau zart, hätt’ ich nur genommen den König Drosselbart“. Das elektrisiert mich! Ich frage die Protagonistin: Welche Elemente gehören für dich zum Märchen von König Drosselbart? Sie sagt: Die Prinzessin, die überhöhten Ansprüche, der Vater, der Bettler und die normalen Leute. Ich lasse sie Stellvertreter auswählen und aufstellen und selbst einen Platz als Beobachterin in der Aufstellung einnehmen.

Die „Prinzessin“ steht den „Ansprüchen“ direkt gegenüber, der „Bettler“ dazwischen, Gesicht zur Prinzessin; der „Vater“ steht links neben ihr, die „normalen Leute rechts“, mit etwas Abstand. Die Prinzessin fühlt sich nur dem Vater und der Protagonistin verbunden. Zunächst bewegt sich der Bettler aus der „Schußlinie“ zur Seite weg, auch die normalen Leute entfernen sich – sie „haben mit all dem nichts zu tun“. Die Prinzessin umarmt den Vater. Dann schaut sie wieder auf die Ansprüche, die sich ihrerseits selbst „fest im Zentrum“ wahrnehmen, aber zu niemandem einen Bezug haben. Der Bettler bleibt zugewandt, ist aber nicht gefragt. Schließlich stellt sich die Prinzessin direkt neben die Ansprüche; beide fühlen sich wohl miteinander.

An dieser Stelle beendete ich die Aufstellung. Später erfuhr ich von der Kollegin, mit der ich diesen Kurs gemeinsam geleitet hatte und die die Klientin schon länger kennt, daß es sich bei der möglichen Lohnarbeit um einen Job in der Firma ihres (Ex-) Mannes handele. Spontan deutete ich den als Bettler verkleideten König Drosselbart des Märchens als diesen Mann, der ihr helfen will, obwohl sie sich von ihm getrennt hat. Das es sich beim Vater der Prinzessin um den Vater der Klientin handelte, war offensichtlich. Ähnliche Konstellationen in einer anderen Aufstellung der gleichen Klientin legen nahe, daß die „Ansprüche“ für die Mutter der Klientin stehen. In der Realität ist Klientin als dreijähriges Kind mit der Mutter in die DDR zurückgekehrt, während der Vater im Westen blieb. Die Mutter, die sich bei der Geburt der Klientin eine schwere Krankheit zugezogen hatte, starb, als sie 13 Jahre alte war. Ohne vom Tod seiner Frau zu wissen, erlitt der Vater am gleichen Tag einen Herzinfarkt. Zwei Jahre später hat sie sich mit ihrem Vater in Berlin getroffen, und einen Tag darauf starb auch der Vater an einem zweiten Herzinfarkt. Die Klientin wuchs danach bei verschiedenen Pflegeeltern auf.)

Grundsätzlich versuche ich, die Märchenfiguren als Personen aus dem (Familien-) System der Klienten zu verstehen. Das gelingt nicht immer. Dafür, daß die Aufstellung eine gute Wirkung für die Klientin hat, ist es jedoch unmaßgeblich, ob wir die Bilder deuten können oder einfach so stehen lassen.

Ich sehe einen Vorteil von Märchenaufstellungen darin, daß sie etwas symbolisieren, in Zeichen/ Bilder umsetzen können, was sonst (noch) nicht benennbar ist. In diesem Fall beschrieb die Klientin ihr Thema etwa so: Ich muß etwas tun, um an Geld zu kommen. Ihre Vorstellungen dazu wirkten kraftlos, in der Aufstellung zeigen sie sich als mit nichts und niemandem verbunden. Der „König Drosselbart“ zeigte hingegen, daß die Verbindung mit dem Vater Kraft gibt, die „Prinzessin“ aber nur entweder beim Vater oder bei den „Ansprüchen“ stehen kann, wobei sie den „Bettler“ nicht (be-) achtet.

Der Suppenkasper

Eine andere Aufstellung erschien festgefahren, als eine Person wie ein kleines Kind im Zentrum saß und vor sich hin litt. Alle anderen, ich als Leiter wie auch die anderen Stellvertreter, bemühten sich um diese Person, die aber nur grinste und alle Bemühungen an sich abprallen ließ. Nichts ging, und ich machte eine abschließende Befragung der Stellvertreter, wie sie die Situation wahrnähmen. Eine Stellvertreterin sagte dabei zu dem Kind in der Mitte: „Du bist doch nur ein Suppenkasper!“ Das machte mich hellhörig, und ich fragte die Stellvertreterin nach der Geschichte vom Suppenkasper. Sie dachte nach und erzählte, verwechselte es aber mit der Geschichte vom Zappelphilipp. Ich sagte: „Der Suppenkasper ist der, der seine Suppe nicht essen will, immer dünner wird, bis er stirbt.“ Es folgte ein Moment der Stille. Ich ließ den „Suppenkasper“ in diese Aufstellung hinein aufstellen – was ich besser gelassen hätte, denn alsbald verlor ich bei der Vielzahl der Stellvertreter den Überblick und brach die Aufstellung ab. Im Anschluß jedoch erzählte die Klientin, daß ihr Großvater bei der Geburt ihres Vaters die Familie verlassen hat. Das Baby (ihr Vater) verweigerte alle Nahrung und wurde monatelang künstlich ernährt.

Der Wolf und die sieben Geißlein

Ein Klient (V.) benennt sein Thema: Ein Gefühl der Schwere und das Fehlen von Freude. Der Stellvertreter für die Schwere nennt als Märchen den „Wolf und die sieben Geißlein“. Als wesentliche Elemente des Märchens fallen der „Schwere“ ein: Die Standuhr, die Tür, der Brunnen, die Mutter, der Wolf. Später werden hinzugenommen: die anderen sechs Geißlein (die „Schwere“ selbst scheint das gerettete siebte zu sein). Die „Tür“ liegt schon bald wie tot an der Tür des Seminarraums auf dem Boden. Die Geißlein sinken zu Boden und liegen wie tot, zum Teil übereinander. Sie erinnern mich (Aufstellungs-Leiter) an die Haufen von Leichen in einem KZ.

Dazu fällt V. ein, daß seine Großmutter sich Anfang der 60er Jahre mit Gas umgebracht hat. Die jetzt hinzu genommene Stellvertreterin der Großmutter legt sich alsbald auf den Haufen der toten Geißlein. Die Stellvertreterin der Tür berichtet nach der Aufstellung, sie habe am dem Spalt zwischen Tür und Boden gelegen in der Hoffnung, daß dort von außen etwas frische Luft herein käme; es sei aber keine Luft hereingekommen, so daß sie nicht wieder habe aufstehen können. Hinter der geschlossenen Tür sind offenbar viele erstickt/vergast.

Ich weiß, daß  es von Bert Hellinger eine Deutung des Märchens vom Wolf und den sieben Geißlein gibt, der zufolge es in dem Märchen darum geht, daß  der Vater von der Mutter vor den Kindern schlecht gemacht wird und er sich verstellen muß, um Zugang zu den Kindern zu finden. Es ist nicht auszuschließen, daß diese Deutung auch im obigen Fall zutrifft. Der Mitteilung des Klienten zufolge hatte sich die Großmutter für „etwas Besseres“ gehalten, während der Großvater einfacher Schlosser in einer Autofabrik war. Das erklärt jedoch weder ihren Selbstmord noch scheint es für das, was die Aufstellung gezeigt hat, von irgendeiner Bedeutung zu sein.

Ich erlaube mir die Vermutung, daß es nicht im Sinne Hellingers wäre, mit solchen Standard-Deutungen als Vorab-Wissen an eine Aufstellung zu gehen. Solches „Wissen“ wäre dann ein Klotz am Bein, der uns hindert, mit dem zu gehen, was die Aufstellung selber zeigt. Ob es überhaupt möglich ist, ein Märchen „an sich“ aufzustellen, etwa um dem auf die Spur zu kommen, was wir für den „archetypischen“ Gehalt des Märchen halten, sei dahingestellt.

Wenn wir ein Märchen im persönlichen Kontext eines Klienten aufstellen, sollten wir uns völlig von solchen Deutungen frei machen, egal wie faszinierend und überzeugend sie klingen. Die Interpretation von Märchen mag in anderen therapeutischen Schulen eine Rolle spielen, vor allem jenen, die den Wunsch der Klienten bedienen, (intellektuell) verstehen zu wollen. Auch (systemische) Deutungen von Märchen oder das therapeutische Geschichten-Erzählen, wie Bert Hellinger es gelegentlich praktiziert und auch vorschlägt4, haben ihren eigenen Platz. Doch sie haben nichts mit der Aufstellungspraxis zu tun.

Rumpelstilzchen

P. und S. arbeiten als Märchenpädagoginnen mit diesem Märchen und wollen es ohne persönlichen Kontext aufstellen. S. wählt als wesentliche Elemente: das Feuer, der Name, der König, Müllers Tochter, Rumpelstilzchen, Jäger, das Kind der Müllerstochter.

Vom Ablauf der Aufstellung halte ich hier nur fest, daß das Feuer sich gleich am Anfang in der Mitte der Szene hinhockte und die ganze Zeit dort blieb, und daß  der König die ganze Zeit unbewegt (ich hatte dafür das Wort „breitbräsig“ im Sinn) und unbeteiligt auf seinem Thron saß. Es gab keine wirkliche Lösung, keinen Moment, wo man gesagt hätte: „So, das war’s“. Erst als ich zum Schluß die „ausgeschlossene Person“ dazustellte, die auch im Märchen nicht erwähnt wird, nämlich die Mutter der Müllerstochter, da wußte „Rumpelstilzchen“ plötzlich, wer er war! Der Stellvertreter von „Rumpelstilzchen“ erklärte dazu später: „In dem Moment, als ich die Mutter sah, war es mir schlagartig klar: Ich bin der Vater der Müllerstochter und auch der Vater ihres Kindes.“

Von allen Aufstellungen dieses Kurses war „Rumpelstilzchen“ die einzige, die ausdrücklich nicht im Zusammenhang mit einem bestimmten persönlichen Anliegen gemacht wurde. Allerdings, auch die Wahl von P. und S., in ihrer eigenen Arbeit gerade mit diesem Märchen zu arbeiten, wird eine persönliche Motivation haben, bewußt oder nicht. Der persönliche Bezug könnte bei P. oder S. selbst liegen, oder von wem auch immer die Initiative zu ihrer Arbeit mit dem Märchen ausgegangen ist. Gut möglich, daß die Aufstellung anders verlaufen wäre, wenn P. statt ihrer Kollegin S. dieses Märchen aufgestellt hätte.

Es kann sogar sein, daß der persönliche Bezug bei der Person liegt, die das Märchen ursprünglich „erfunden“, es als erste erzählt hat oder bei der Person, die es aufgeschrieben und überliefert hat. Für diese letzte Möglichkeit haben wir sogar ein Indiz. Denn die „ausgeschlossene“ Person, deren Einführung in die Aufstellung zu ihrem überraschenden Schluß führte, also die Mutter der Müllerstochter, ist ja nicht von P. und S. weggelassen worden, sondern sie taucht schon in der Grimmschen Überlieferung nicht auf. Ich würde mich jedoch davor hüten zu behaupten, der Schluß, den wir in dieser Aufstellung gefunden haben (der Vater schwängert seine eigene Tochter und schiebt das Kind dem „König“ unter), die gültige Deutung dieses Märchens wäre. Hier, in dieser Aufstellung war es so. Mehr können wir kaum sagen.

Auswahl und Bezeichnung der Elemente/Stellvertreter

Ich überlasse es der Person, die das Märchen benennt – Klient, Stellvertreter oder „Beobachter“ im Außenkreis, diejenigen Elemente des Märchens zu bezeichnen, die sie für wesentlich hält. Diese Auswahl macht einen Unterschied – auch wenn man nicht wissen kann, welchen, weil man ja nie beobachten kann, wie eine Aufstellung verlaufen wäre, wenn man sie nicht so, sondern anders begonnen hätte. Zum Beispiel im Fall von Rumpelstilzchen wäre ich selbst nicht darauf gekommen, das „Feuer“ aufzustellen. Doch es nahm sofort (räumlich sichtbar) eine zentrale Rolle ein. Vor dem Hintergrund des Schlusses, daß der Müller sowohl Vater seiner Tochter als auch deren Kindes ist, und unter Annahme der gängigen Symboldeutung des Feuers als „männliche sexuelle Energie“, hat das Feuer hier eine zentrale Bedeutung.

Und nicht nur mit der Auswahl, auch mit der Bezeichnung der Elemente werden Akzente gesetzt. Die Müllerstochter hätte ja auch „junge Königin“ genannt werden können; mit Blick auf den Verlauf (das Verhalten des Königs) und den Schluß erscheint es sehr sinnvoll, daß die Müllerstochter so benannt wurde und nicht anders. Mit dem Müller hat sie viel zu tun, mit dem König nicht.

Wie unterschiedlich die Auswahl der Elemente ausfallen kann, zeigt der Vergleich zweier Aschenputtel-Aufstellungen. Im einen Fall5 lautete die Auswahl: Stiefmutter, Tochter der Stiefmutter, Aschenputtel, der Prinz, die Stimme, Aschenputtels Mutter. Im anderen6: Aschenputtel, schöne Kleider, die tote Mutter, ein Fest, der Prinz. Wesentlich in der ersten Aufstellung war das Verhältnis der beiden (Halb-) Schwestern zu ihrer Mutter bzw. Stiefmutter. Die Hoffnungen auf den Prinzen waren völlig illusorisch. (Der Prinz über beide: „Heiraten? Da kann ich ja nur lachen. Das ist doch nur Pöbel, und ich bin ein Prinz!“) Die Stiefmutter war der einzige Halt für das verlorene Aschenputtel, aber am Rande ihrer Kräfte. In der anderen Aufstellung wurde deutlich, daß der Prinz für den Vater des Kindes der Klientin stand. Aschenputtel ist das Lieblingsmärchen des Kindes. Das Kind lebt bei seiner Mutter, der Vater ist zwar Deutscher, lebt aber im Ausland und kommt jährlich einmal nach Deutschland zu Besuch. Alle anderen Elemente in dieser Aufstellung blieben im Hinblick auf die Frage, welche Person aus dem wirklichen Familiensystem sie repräsentieren, undeutlich.

Gleichwohl halte ich dafür, daß Märchen – zumindest die, die von vornherein in Beziehung zu einer wirklichen Person aufgestellt werden, Familienaufstellungen in einer poetischen Gestalt sind. Diese Form ermöglicht Aufstellungen, bei denen das Anliegen nicht präzise genannt werden, ja nicht einmal bewußt sein muß. Natürlich gilt dann in doppelter Weise, was auch für andere Systemaufstellungen gilt: Je unklarer die Frage, desto unschärfer die Antwort. Für die Seele des Klienten ist sie klar genug, und der bewußte Verstand der Beteiligten darf sich ruhig damit bescheiden, daß er es eben nicht versteht.

Der alte Mann und das Meer

Eine andere Frage, die etwas mit wissenschaftlicher Genauigkeit zu tun hat, ist die der Unterscheidung von Märchen und Mythen. Möglicherweise kann hier gerade die Aufstellungsarbeit zu eigenen Kriterien der Unterscheidung führen. Zur Arbeit mit Mythen verweise ich vor allem auf die Artikel von Dimitris Stavropoulos7; ich selbst möchte hier folgendes Beispiel darstellen:

Auf die Frage, welche Geschichte sie beschäftige, antwortete ein Klientin, ihr komme der Buchtitel „Der alte Mann und das Meer“ in den Sinn; sie wisse aber gar nicht den Inhalt. Eine andere Teilnehmerin wußte die Geschichte, aber nur ungefähr. Genau mußten wir es auch nicht wissen, denn die Klientin war von dem Titel ergriffen, nicht von der ganzen Geschichte. Also stellten wir den „alten Mann“ und „das Meer“ auf. Die Stellvertreterin des Meeres beschrieb ihr Erleben so:

„Ich bin das Meer, tanze durch den Raum, mal sehr aufgewühlt, mal ganz ruhig. Ich sehe den alten Mann: Er rudert mit den Armen, zunächst ruhig, dann wilder. Er kann nichts tun – es gibt nichts zu tun! Er legt sich auf den Boden, ich lege mich daneben. Der Kampf hat aufgehört. Ruhe, Frieden breitet sich aus: Wir sind eins. Nach einer Weile sehe ich über mir, etwa in Höhe der Zimmerdecke, eine weiße Gestalt, wie ein weißer Schatten. Wie in einem Spiegel an der Decke sehe ich mich – nur viel größer und ohne feste Umrisse. Ich stehe wieder auf und beginne zu tanzen.“

Als Aufstellungsleiter nahm ich wahr, daß „das Meer“ sich zunächst leicht hin und her wiegte, später regelrecht tanzte. Der „alte Mann“ begann sehr bald mit den Armen zu rudern und wollte gar nicht mehr aufhören. Ich mag es nicht, wenn die Stellvertreter agieren. Sie sollen ja in Ruhe spüren. In dieser Situation jedoch brachte ich nicht mehr zuwege, als die Stellvertreter zaghaft zu ermahnen, sich doch bitte langsam zu bewegen. Diese Aufforderung ignorierten die Stellvertreter komplett und fuhren in ihren Bewegungen fort wie zuvor. Die Stellvertreterin des Meeres bestätigte später, sie habe bei meinem Versuch einer Intervention gedacht: „Was ist der klein!“, und genauso habe ich mich gefühlt.

Die Aufstellung ging ihren eigenen Gang, bis sie eben zuende war. Als wir nach der Aufstellung still im Kreise saßen, wurde mir bewußt, wie mühsam der „alte Mann“ gekämpft hatte, um die Aufmerksamkeit des „Meeres“ zu erringen, und er bekam sie erst, als er zu Boden sank. Dort gab es einen Moment der Innigkeit, als beide neben einander lagen – bis „das Meer“ wieder aufstand und weiter tanzte, während der „alte Mann“ am Boden liegen blieb. Mir kam dazu in den Sinn: Das Männliche kämpft, erschöpft sich und vergeht. Das Weibliche ist ewig.

Natürlich beschäftigte mich, weshalb ich als Leiter während der Aufstellung so „abgemeldet“ war. Hatte ich etwas falsch gemacht? Es beruhigte mich, als ich wenig später folgende Passage (unveröffentlicht) in einem Manuskript von Dimitris Stavropoulos über eine Aufstellung der Ilias las: „Er [der Stellvertreter der Ilias] forderte sogar den Leiter auf, ihm zu folgen. Dieser fühlte sich einer überwältigenden Kraft ausgesetzt, der nichts entgegen zu setzen war. Auch die inneren Bedenken des Leiters, daß seine Teilnahme in der Aufstellung einer Verantwortungslosigkeit gleichkäme, halfen nichts, und er folgte schweigend. Das Schicksal/Ilias hat ihn allerdings gegenüber Homer aufgestellt, woraufhin Homer sehr weinte und seinen Kopf auf die Schulter des Leiters legte. Gefragt, hat Homer geantwortet, daß ihn das von ihm beschriebene Leiden und das Schicksal der Männer tief schmerze. Doch die Zärtlichkeit, mit der er seinen Kopf auf die Schulter des Leiters senkte, vermittelte uns den Eindruck, als ob Homer unserem Bemühen, unserem Werk und seinen Zielen zustimme.“

Allgemeiner faßt Stavropoulos diese Erfahrung so zusammen: „Bei Aufstellungen von Mythen bzw. Tragödien beobachtet man, daß auf Intervention, welche beim Familienstellen üblich sind, die Stellvertreter meist abweisend reagieren. Man kann den Prozeß nur den autonomen Bewegungen des Gruppenfeldes überlassen und sich von ihnen leiten lassen“8. Möglicherweise ist diese Autonomie der Stellvertreter, ihre Immunität gegenüber Interventionen der Leitung, ein verbindliches Kriterium dafür, daß „Der Alte Mann und das Meer“ im Kontext der Aufstellungsarbeit tatsächlich ein Mythos ist9. Bei Märchen- oder vergleichbaren „Geschichten“-Aufstellungen jedenfalls habe ich dieses Phänomen der „autonomen Stellvertreter“ bisher nicht erlebt.

Dieser Artikel ist leicht gekürzt erschienen in Systemische Aufstellungspraxis 1/2005

Jayin Thomas Gehrmann