Ausgabe 03/07 Hellinger Siencia. Bert Hellinger unterscheidet zwischen „zwei therapeutischen Bildern: Das eine ist Wachstum und das andere ist Reparatur. Bei der Reparatur brauche ich die Vollständigkeit und beim Wachstum brauche ich den Impuls, dass es weitergeht.“
Diese beiden Bildern unterscheiden zunächst etwas in der bewussten Absicht sowohl auf der Seite des Klienten als auch auf der Seite des Helfers: Was der eine haben möchte und was der andere tun möchte. Hellinger fährt an gleicher Stelle fort: „Sehr viel Psychotherapie arbeitet mit dem Bild von Wachstumsprozessen.“ Um bei der obigen Unterscheidung zu bleiben, könnte man auch sagen, dass viele Therapeuten mit dem Bild von Wachstumsprozessen arbeiten.
Als Klient habe ich in der Regel eher eine Vorstellung von dem, was ich erwarte, die dem Bilde der Reparatur nahe kommt. Natürlich würde ich es nicht so nennen, weil ich mich nicht gern mit einem kaputten Auto oder Küchengerät vergleichen möchte, aber darauf läuft es hinaus: Mir fehlt etwas – also möchte ich etwas bekommen, was die Lücke schließt. Oder mir ist etwas zuviel – und ich wünsche, dass es von mir genommen wird.
Und auch beim Therapeuten mag es eine Rolle spielen, daß er nicht nur ein Reparaturhandwerker sein möchte wie Zahnärzte und Chirurgen, eben kein „Seelenklempner“, sondern eher ein Wissenschaftler oder ein kreativer Künstler. Diese Trennlinie besteht in der abendländischen Medizin seit ihren akademischen Anfängen in der frühen Neuzeit.
Dabei ist an Reparatur nichts verkehrt. Wer durch Krankheit oder Unfall verletzt, beschädigt, beeinträchtigt ist, wird die Arbeit von Chirurg und Masseur oder die Hilfe der Prothetik zu schätzen wissen. Traumatherapeuten machen wertvolle Reparaturarbeit. Nicht immer muss man bei einem Unfall, einer Verletzung oder Krankheit nach den geistigen oder spirituellen Hintergründen forschen, um wirksam zu helfen. Das eine schließt das andere auch nicht aus. Zum Fußballspielen nehme ich sowohl Eisspray als auch die Bachblüten-Notfalltropfen mit.
Zweierlei Vollständigkeit
Klient und Helfer haben zu dem gemeinsamen Prozess also unterschiedliche Motive, unterschiedlich auch in Hinsicht auf Reparatur oder Wachstum. Der Helfer, der seinem Klienten, welcher Reparatur wünscht, nicht Wachstum aufzwängen will (etwa um sein eigenes Ego zu pflegen, weil er selbst nach Höherem strebt), kann mit der Unterscheidung zwischen Reparatur und Wachstum überprüfen, wo der Prozess sich gerade befindet und wohin die Reise nun weiter gehen soll.
Doch erleben wir gerade bei der Aufstellungsarbeit, dass solch eine Grenzziehung zwischen „Reparatur“ oder „Wachstum“ etwas Gewolltes haben kann und dem Anliegen in seinem verborgenen Kern nicht gemäß erscheint. Schon mancher Aufsteller wird nach einer Aufstellung den Protest von Klienten gehört haben: „Das wollte ich gar nicht sehen!“ Doch die Aufstellung, wenn sie nicht künstlich angetrieben oder ausgebremst wird, zeigt das, was da ist. Sie zeigt nicht, was einer sehen möchte.
Wenn Hellinger sagt: „Bei der Reparatur brauche ich die Vollständigkeit“, dann bezieht er sich an der zitierten Stelle auf die Arbeitsweise des Therapeuten.2 Wir können sie aber auch auf die Frage beziehen, wohin der therapeutische Prozess gehen soll: Unbeschädigt möchte ich sein – eben so wie vor dem Unfall. Vollständig möchte ich sein, heil und ganz. Doch wann bin ich „heil und ganz“? Das könnte am Ende viel mehr bedeuten als Reparatur, und weder der Aufstellungsleiter noch der Klient haben es in der Hand, wohin die Reise geht.
Es kann gut sein, daß einer nur diesen oder jenen kleinen Tick loswerden will. Nachher passt ihm sein alter Anzug nicht mehr: Es ist alles andere als selten, dass der gewünschten Veränderung andere Veränderungen folgen, an die vorher niemand gedacht hat und die nicht unbedingt angestrebt waren.
Ein Mensch, der erfolgreich zu mehr Vollständigkeit hin „repariert“ ist, wird hinterher vielleicht nicht mehr in die Beziehung mit seinem Partner passen. Das gilt natürlich nicht nur für die Aufstellungsarbeit. Ich erinnere mich an die Geschichte, die mir meine Kinesiologie-Lehrerin erzählt hat, dass eines Tages der Ehemann einer Klientin wütend zu ihr kam und verlangte, sie solle ihm seine Frau wiedergeben, wie sie vorher war.
Wachstumsschmerzen
Natürlich, selbst wenn sie es gewollt hätte, sie hätte es nicht gekonnt. Wann wir vollständig sind, heil und ganz, das bestimmt weder der Klient noch der Therapeut alleine, und das bestimmen auch nicht beide zusammen. Da kommt noch etwas Höheres hinzu. Und dieses Höhere wirkt im sogenannten therapeutischen Prozess – nach meiner Erfahrung besonders dann, wenn wir es darum bitten, aber manches mal auch ohne dem. Und das ist nicht immer nett und gemütlich.
Ich weiß, Kollegen reden nicht gerne darüber, aber bin mir sicher, dass ich dies nicht als einziger erfahre: Dass Teilnehmer nach einem Aufstellungskurs berichten, sie seien danach drei Tage krank gewesen und hätten im Bett gelegen. Ist das ein Zeichen, dass der Aufstellungsleiter schlecht gearbeitet hat, gar etwas falsch gemacht hat? Bestätigt das nicht das Vorurteil mancher Gegner der Aufstellungsarbeit, diese Arbeit sei „gefährlich“, bzw. sie habe „Nebenwirkungen“?
Es könnte einfach ein Zeichen dafür sein, dass der Prozess, der von der Aufstellungsarbeit angeschoben worden ist, gewissermaßen vom einen Aggregatzustand, nämlich „Reparatur“, in einen anderen, nämlich „Wachstum“, übergegangen ist. Dazu muss diese Person nicht mal ein eigenes Anliegen aufgestellt haben; als Stellvertreter stehen kann genügen.
Wenn wir uns und unsere Arbeit von vornherein auf Wachstum ausrichten und dabei nicht ganz blauäugig sind, dann müssen wir davon ausgehen, dass auch dieses Wachstum mit Schmerzen verbunden sein kann. „Wachsen“, habe ich Bert Hellinger mal sagen hören, „kann man nur mit schlechtem Gewissen“. Das tut weh.
Die meisten Aufsteller werden mit mir die Ansicht (oder Erfahrung) teilen, dass auch körperlichen Beschwerden durch geistige Arbeit abgeholfen werden kann. Warum sollte das nicht auch stimmen, wo es weniger Spaß macht? Dass also geistiges Wachstum nicht nur mit Schmerz auf der geistigen Ebene verbunden sein kann, sondern auch auf der körperlichen? Meine Vorstellungen über solche „Wachstumsschmerzen“ sind freilich noch recht unausgegoren, und über dieses Thema gibt es auch kaum Diskussion oder Erfahrungsaustausch.
Kurz nach der Ausbildung tauchte in unserer Austauschgruppe die Frage auf, ob es nach Aufstellungen so etwas wie eine „homöopathische Erstverschlimmerung“ gäbe. Wir kamen zu dem Schluss, das sei nicht der Fall. Das glaube ich auch immer noch nicht, einfach weil dieses Phänomen in der Homöopathie etwas ganz Spezifisches meint, um das es hier nicht geht.
Andererseits hieß diese Antwort für mich auch, damals: Nach einer Aufstellung geht es einem immer nur besser, nie schlechter. Da bin ich mir nicht mehr so sicher. Allein, das Thema bleibt schwer zu verhandeln: Wenn ich nun berichte, dass bei mir so etwas hin und wieder vorkommt, könnte ein anderer darauf vielleicht antworten: „Bei mir passiert das nie. Du musst wohl etwas falsch machen!“ – sehe ich dann nicht aus wie ein Idiot, der besser den Schnabel gehalten hätte?
Darf ich das?
Kann sein, ich hätte auch die Folgen einer Aufstellung besser im Griff, wenn ich mich – so wie ich es von meinem damaligen Lehrer gelernt habe – darauf beschränken würde, das Anliegen exakt zu umreißen, die dafür nötigen Daten zu erheben und die Aufstellung aktiv so zu gestalten, dass sie möglichst geradlinig auf eine Lösung der Ausgangsfrage zusteuert. Weiche nicht vom Weg ab, pflücke keine Blumen, und lass dich nicht auf Gespräche mit dem bösen Wolf ein.
Manchmal arbeite ich auch immer noch so, vor allem um die systemischen Ordnungen sichtbar zu machen, oder wenn die Zeit knapp ist: „Wir haben nur noch eine halbe Stunde? Dann machen wir mal eine klassische Aufstellung.“ Ich glaube, wenn ich bewusst die Wachstumsvariante vermeiden wollte und die Reparaturvariante wählen, dann würde ich die klassische Arbeitsweise wählen.
Als Aufsteller habe ich dabei einfach mehr im Griff, wohin sich die Aufstellung entwickelt und wohin nicht. So kann ich eher vermeiden, dass unterwegs ein Fässchen aufgemacht wird, bei dem wir nicht wissen, was darin ist und ob wir das haben wollen. Persönlich glaube ich, dass die geistigen Helfer (oder meinetwegen „das Feld“) nur solche Informationen in eine Aufstellung einbringen, die zu erfahren für den Klienten jetzt auch angezeigt ist. Was nicht heißt, dass er es mögen wird.
Kann und darf ich als Aufstellungsleiter dem Klienten das zumuten? Nun, da stellt sich mir zunächst die Gegenfrage: Kann ich es denn vermeiden? Letzten Endes nicht. Es ist nicht möglich, eine Reparatur zu versuchen, ohne zu riskieren, dass man damit Wachstum auslöst.
Da sage ich als Klient so etwas scheinbar Harmloses wie „Ich will wieder gesund sein“, ahne aber nicht, worauf ich mich damit einlasse. Wenn die Krankheit ein Zeichen ist – für was steht dieses Zeichen? Was verschwindet noch, wenn das Symptom, das Zeichen verschwindet? Am Ende ist nicht nur die chronische Bronchitis weg, sondern auch die Freundin, der alte Job oder die Freude am Biertrinken, oder wie immer die nötigen nächsten Veränderungsschritte für Wachstum aussehen mögen.
Zwischen den Ausrichtungen Reparatur und Wachstum, zwischen „wieder herstellen“ und „in Bewegung bringen“, vielleicht in Bewegung auf ein Ziel, dass wir nicht kennen und auch nicht kennen können, da zwischen verteilen sich die verschiedenen therapeutischen Methoden.
Das eine orientiert sich mehr auf den Körper beziehungsweise auf unser Funktionieren in der materiellen Welt, das andere auf unsere geistige Entwicklung und Wachstum andererseits. Aufstellungsarbeit kann in dieser und in jener Weise verwendet werden. Sie bewirkt immer wieder auch wunderbare Reparaturen. Ja, wunderbare. Ob das eine ohne das andere, Reparatur ohne Wachstum, überhaupt zu haben ist, weiß ich nicht. Und, ehrlich gesagt, es interessiert mich auch nicht besonders. Sicher scheint mir, dass eins das andere nicht ausschließt.
von Jayin Thomas Gehrmann