Veröffentlicht in: HellingerZeitschrift 03/08, S.18f
Man kennt solche Szenen aus Filmen: ein Mensch kommt zu Tode und liegt, verkrümmt oder ausgestreckt, mit offenen Augen da. Jemand, der sich kümmert, beugt sich zu dem Toten hin und schließt ihm die Augen.
Aus Aufstellungen kennen wir, dass „tote“ Stellvertreter mit offenen Augen liegen, solange etwas für sie sehr Wichtiges noch nicht erledigt ist. Wenn sie dann die Augen schließen, lesen wir das als ein Zeichen, dass sie nun „in Frieden“ sind. Und damit ist die Aufstellung oft erledigt, es gibt nichts mehr zu tun.
Vielleicht ist es auch die Toten dieser Filmszenen so, oder auch für wirkliche Tote, dass die offenen Augen bedeuten, dass ein Kampf stattfand, der auch mit dem Tode nicht aufgehört hat. Vielleicht hat die Seele des Toten noch nicht einmal den Tod wahrgenommen. Was bewirkt dann die Geste des Lebenden, der dem Toten die Augen schließt? Bringt er dem Toten Ruhe, oder beruhigt er sich selbst?
Gelegentlich, wenn ich als Stellvertreter für einen Toten in einer Aufstellung auf dem Boden liege, habe ich erfahren, dass es wohltuend sein kann, wenn ich gerade gerückt werde, mir die Hände gefaltet und auf Bauch oder Brust gelegt werden. Vorausgesetzt, ich bin mir bewusst und im Einklang damit, tot zu sein. Manchmal kann ich dann die Augen schließen. Unerträglich wäre es jedoch, wenn ein Lebender, wie wohlmeinend auch immer, mir die offenen Augen schließen wollte. Die Augen zu schließen, das kann nur als Impuls von innen kommen.
Eine Geste als letzter Liebesdienst kann auch dann noch nötig sein, wenn in einer Aufstellung der „Tote“ bereits von selbst die Augen geschlossen hat. Damit er wirklich in Frieden kommen kann, braucht es manchmal noch etwas Zusätzliches: eine Aufbahrung vielleicht, ein Begräbnis in angemessener Form und am rechten Ort.
Ich erinnere mich an eine Aufstellung vor Jahren, in meiner Ausbildung. Ich stand dort für einen älteren Verwandten des Klienten, ein Mann, der wohl vor Jahrzehnten ausgewandert war. In dieser Rolle empfand ich den dringenden, ja beherrschenden Wunsch, „in Heimaterde“ begraben zu werden. Diese Aufstellung war an sich nicht besonders dramatisch, und doch habe ich sie nicht vergessen. Es muss mich doch sehr beeindruckt haben, dass es jemandem so wichtig sein kann, wo sein Körper bleibt, wenn er tot ist.
Vor kurzem hörte ich in einer anderen Aufstellung einen Stellvertreter sagen: „Uff, ich habe es gerade noch geschafft, in die Heimat zurück zu kommen. Jetzt kann ich sterben.“ Aus der Rolle einer verstorbenen Migrantin berichtete die Stellvertreterin, ihr Körper hätte zur Beerdigung in ihr Heimatland gebracht werden müssen, denn „Ich hatte meiner Mutter versprochen, dass ich wieder zurück komme.“
Knöchel durch die Decke
In einer anderen Aufstellung hatte ich zu Beginn für einen Moment das Bild vor Augen, dass aus der aufgewühlten Erde eine Hand herausrage. Das war mir peinlich, und ich wollte diese Hand rasch und unauffällig in der Erde verschwinden lassen, doch ich wusste nicht, wie. Dieses Bild war wie eine Vorschau.
Ich war zunächst als „Symptom“ aufgestellt worden, fand mich nun aber als einen jungen Mann im Streit mit einem anderen. Nichts ernstes eigentlich, eher ein jugendlich-prahlerisches Gerempel. In diesem Streit geschah es, dass ich erschlagen wurde und verscharrt. Es folgte ein Dialog mit dem Täter, der sich bald neben mich legte und dem ich keineswegs böse war. Wir redeten weiter wie vorher, und ich amüsierte mich mit „Knöchelchen durch die Decke strecken, um die Leute zu erschrecken“.
Dann kam die Mutter des Toten, also „meine“ Mutter, hinzu. Sie war zunächst wütend und schimpfte, dass ihr Junge „schon wieder so einen Mist“ gemacht hätte. Dann weinte sie und erklärte, sie wolle mich jetzt richtig beerdigen. Ein Aufatmen ging durch mich hindurch. Ja, ich wollte ein Grab auf einem Friedhof, „nicht in diesem Dreckloch“ liegen. Die Mutter rückte meinen Körper gerade und legte meine Hände zusammen. Dass nun Frieden und auch Ernst einzogen, merkte ich daran, wie der Dialog mit dem Täter, der immer noch neben mir lag, weiterging. Dem teilte ich mit: „Wollt’ grad sagen: ‚Bist ein Blödmann’. Aber ich will keine schlechten Worte mehr sagen.“ Und damit war die Aufstellung zuende. Was getan werden musste, war getan, und was gesagt werden musste, war gesagt.
Raus aus dem Dunkeln
Etwas Ähnliches begegnete mir in einer anderen Aufstellung, bei der ich in der Rolle des Anleiters war. Der Mann der Klientin hatte (oder hat) eine tödliche Krankheit, sie selbst Tumore, gutartige, wie man sagt. Ich hätte vielleicht genauso gut das Symptom aufstellen können, aber ich entschied mich für die Ahnenreihe: Vor der Klientin, ihr gegenüber, standen hintereinander fünf Stellvertreter für ihre Eltern, Großeltern etc. Die Stellvertreterin in der fünften Reihe fing alsbald an zu schwanken und zu zucken, sank zu Boden, wurde auch dort von krampfartigen Zuckungen geschüttelt.
Der Vertreter der nächstjüngeren Generation setzte sich neben sie, und langsam hörten die Zuckungen auf. Die Stellvertreterin rollte sich auf die Seite. Ihre Augen waren von Anfang an geschlossen gewesen. Auch die Vertreter der darauf folgenden beiden Generationen schauten zur Toten und bewegten sich langsam auf sie zu. Nur die letzte Generation, die Eltern der Klientin, waren einen Schritt zu Seite getreten. Dort blieben sie reglos stehen und schauten starr weiter nach vorne, weg von der Toten, die hinter ihnen lag.
Die Klientin selbst stand in eigener Rolle in der Aufstellung. Sie war sehr bewegt, und wie war hin- und hergerissen, auf ihre Eltern oder auf die Ahnin zu schauen. Bis hierhin war die Aufstellung ohne Worte abgelaufen. Nun ließ ich die Klientin zu ihren Eltern sagen: „Ich gehe den Weg bis zum Ende“. Aber die Eltern reagierten jedoch überhaupt nicht.
Dann ging die Klientin in Richtung auf die Ahnin, blieb aber auf halben Wege stehen. Ich forderte sie auf, sich zu der Ahnin zu legen. Sie legte sich ebenfalls auf die Seite, angeschmiegt an den Rücken der Ahnin. Die protestierte jedoch: „Die hat hier nichts zu suchen“, und nach einem Moment fügte sie hinzu: „Ich will nur hier raus aus dem Dunkeln, ans Licht.“ Ich verstand zunächst nicht, was sie damit meinte, und sie erläuterte: „Ich will ein richtiges Grab.“
Darauf ließ ich die Klientin wieder aufstehen und forderte sie auf, zusammen mit den Vertretern der anderen Generationen, die dabeistanden, die Tote auf einen Friedhof umzubetten. Sie waren zunächst etwas ratlos über diese Aufgabe – wie macht man das in einer Aufstellung? Dann drehten sie die Tote auf den Rücken, rückten sie gerade und legten ihre Hände zusammengelegt auf die Brust. Als sie „am Grab“ standen und auf die Tote schauten, forderte ich sie auf, für sie zu beten, wenn sie könnten.
Als nun diese „Beerdigung“ und Trauerfeier stattfanden, geschah es, dass auch der Vertreter der Elterngeneration sich umdrehte und interessiert auf die Szene schaute. Die ganze Gruppe, auch die außen Sitzenden, spürten die Erleichterung und Entspannung, die plötzlich durch das ganze Familiensystem ging.
Nach der Aufstellung berichtete die Stellvertreterin der Ahnin: „Ich habe die ganze Zeit genau gewusst, wo ich war: ich lag in einem großen Stall, zwischen den Tieren, im Dreck. Und ich wollte nur da raus, alles andere war mir egal.“
Der Name auf dem Stein
Manchmal schließen die „Toten“ in einer Aufstellung die Augen, und es ist gut – oder, na ja, ziemlich gut. Ein kleines Aber ist noch da. Irgendetwas, vielleicht nur eine Kleinigkeit, fehlt noch. Das ist dann oft ein angemessenes Begräbnis. Die Vorstellungen, was das sei, unterscheiden sich natürlich von Fall zu Fall
Wenn man als Anleiter in einer Aufstellung den Eindruck hat, dass in dieser Hinsicht noch etwas fehlt, kann man natürlich den Stellvertreter des Toten befragen, was er braucht. Das ist sicher besser, als aufs Geratewohl irgendetwas zu machen, was man selbst für angemessen hält. Manchmal weiß es der Betroffene (bzw. sein Stellvertreter) aber auch selber nicht, und dann muss der Aufstellungsleiter erkennen, was hier wohl gebraucht wird.
Das kann wirklich eine Kleinigkeit sein: Dass einer hinschaut, dem Toten zunickt, eine Gefühlsregung zeigt. Ich habe es, als Stellvertreter in der Rolle von Toten, mehr als einmal erlebt, dass ich mir wünschte, dass an meinem Grab gesungen wird. Oder dass ein Pfarrer eine Predigt hält. Oder dass ich von außerhalb der Friedhofsmauern nach innerhalb umgebettet würde. Oder ins Familiengrab aufgenommen würde. Oder es war wichtig, dass mein Name auf dem Grabstein steht.
Wohl aus dieser Erfahrung heraus kam mir kürzlich in einer Aufstellung, die ich anleitete, eine hilfreiche Idee. Diese Aufstellung war insgesamt verfahren. Irgendwann standen, außer der Klientin und ihrem Symptom, zwei Länder sowie zwei unbekannte Personen in der Aufstellung. Zwischen allen tat sich etwas, aber nichts Genaues. Die Energie flachte spürbar ab. Nichts bewegte sich mehr.
Wahrscheinlich hatte ich anfänglich zuviel über das Anliegen der Klientin nachgedacht, alle Umstände erwogen und entsprechende Stellvertreter-Rollen besetzen lassen. Ich nahm nun alle Stellvertreter aus den Rollen, außer dem „Symptom“, und dem stellte ich die Klientin in eigener Person gegenüber. Sofort war wieder eine Spannung da.
Das Symptom war auf einmal deutlich eine Person, und zwar männlich, etwa vier Generationen älter als die Klientin. Diese Person war ungeduldig: „Weißt du nicht wer ich bin?“ – „Nein, ich weiß es nicht.“ – „Aber du musst doch wissen, wer ich bin!“ Darauf fragte ich den Stellvertreter: „Weißt du denn, wer du bist?“ Er hielt inne, machte ein erstauntes Gesicht, und antwortete „Nein“, etwas ratlos und bedrückt.
Darauf stellte ich einen anderen Vertreter hinter „das Symptom“ und erklärte: „Du bist sein Grabstein, auf dem sein Name steht.“ Und wieder entspannte sich sofort nicht nur die Beziehung zwischen „Symptom“ und Klientin, sondern in der ganzen Gruppe.